Folge dem weißen Kaninchen
dass wir Bullshit produzieren, auch wenn wir schweigen sollten, um weise zu bleiben. Das ist, wenn ich mich nicht irre, die Wahrheit und nichts als die Wahrheit.
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Kapitel 7 Genießen Die Kunst der Schönheit
Eines Tages trafen Sokrates, der Komödiendichter Aristophanes und einige andere Athener Bürger in einer Villa zusammen, um über die Liebe, die Schönheit und den Gott Eros zu diskutieren. So berichtet es jedenfalls der griechische Philosoph Platon in seinem Dialog
Symposion
, was in alten Ausgaben mit «Gastmahl» übersetzt wird, wörtlich aber «Trinkgelage» bedeutet. Am Ende sind alle blau, bis auf Sokrates, obwohl er mit einigen Standfesten bis zum Morgengrauen durchgezecht hat.
Eros ist der Gott der Liebe und der Lust, auch bekannt unter seinem lateinischen Namen «Amor». Er ist ein schwer erziehbares Kind: frech, bockig, unbelehrbar und impulsiv. Und er macht gerne Späße auf Kosten anderer. Weder Götter noch Menschen sind vor seinen Liebespfeilen sicher. In den Getroffenen entbrennt eine unstillbare Leidenschaft, die fast immer unerwidert bleibt, da der Liebesgott sich selten die Mühe macht, zwei Pfeile gleichzeitig abzuschießen.
Die Abendgesellschaft um Sokrates streitet sich über Eros’ Einfluss im Leben der Menschen, genauer der Männer. Sokrates zufolge haben Männer einen Eros in sich, eine Leidenschaft für das Schöne: Das beginnt mit der Liebe zu schönen Knaben und wandelt sich dann zu einem Schönheitssinn für Dinge und Taten. Bei wenigen kann sich der Eros zu einer Leidenschaft für die Erkenntnis steigern, also für die Philosophie. Als intellektuelle Erotik ist das Nachdenken also nicht jedermanns Sache, sondern eher etwas für den Kenner mit besonderen Vorlieben.
Man erwartet zunächst, dass Sokrates auch die Liebe zwischen Mann und Frau thematisiert, aber die taucht nur am Rande auf, obwohl angeblich alle Menschen einen Zeugungsdrang in sich spüren. Wir seien getrieben von einer Sehnsucht nach Unsterblichkeit, dem Wunsch, uns zu verewigen: durch Nachfahren, Kunstwerke oder Schriften.
Bezeichnenderweise hat sich Sokrates mit dieser Idee selbst verewigt: Noch heute sprechen viele Künstler, Architekten und Wissenschaftler von ihren Projekten als ihren «Babys». Mehr noch: Mit dieser fidelen Runde begann die philosophische
Ästhetik
, die Wissenschaft von der Schönheit und der Kunst, in der die antiken Grundgedanken bis heute prägend sind. Allerdings tischt Sokrates eher einen Themencocktail auf, indem er Schönheit sowohl mit Erotik und Genuss als auch mit Kunst und Kreativität vermischt. Nüchtern betrachtet ist es ratsamer, diese verschiedenen Grundstoffe getrennt zu servieren, denn es gibt Kunst, die nicht schön ist, und Schönes, das keine Kunst ist, beispielsweise die Natur.
Dennoch geht es in der philosophischen Ästhetik bis heute um ebendiese zwei Hauptfragen, nämlich «Was ist schön?» und «Was ist Kunst?». Lange Zeit gab es zwischen beiden auch eine enge Verbindung, denn bis in die Moderne hinein erschufen Künstler Werke, die die Sinne positiv ansprechen sollten: anmutige Marmorstatuen, wohlklingende Symphonien, imposante Paläste, fließende Tanzbewegungen. Doch heute gehen Schönheit und Kunst oft auseinander. Modefotografie, Design und Popmusik zielen zwar noch direkt auf unseren Schönheitssinn, aber viele Werke der Kunst und Musik tun das nicht mehr.
Zwei Beispiele: Die amerikanische Künstlerin Cindy Sherman ist für ihre eindeutigen, zweideutigen und dreideutigen Fotos bekannt. Auf einigen Bildern sieht der Betrachter wunderschöne bunte Farbmuster. Nur wer näher herantritt, erkennt, dass es sich um Essensreste handelt, die mit Schimmel überzogen sind. Ungewollt mischen sich so Genuss und Ekel zu einem eigentümlichen Kunsterlebnis. Andere Fotos könnte man zunächst für explizite Aktbilder halten, bis klar wird, dass es Puppen sind, denen teilweise Gliedmaßen fehlen. Auf den ersten Blick mögen sie den Betrachter belustigen, doch schon beim zweiten wirken sie verstörend. Auch Arnold Schönbergs Zwölftonmusik empfindet der ungeübte Hörer mindestens als verwirrend, oft sogar als nervtötend. Schönheit spielt in den modernen Künsten sicherlich eine Rolle. Aber das Schönheitserleben ist nur einer von vielen Effekten, die die modernen Künste erzeugen: vom Ekel bis zur Belustigung, von der derben Provokation bis zum feinen Aha-Effekt, von der Überraschung und dem Staunen bis hin zur
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