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Folge dem weißen Kaninchen

Folge dem weißen Kaninchen

Titel: Folge dem weißen Kaninchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Hübl
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Betroffenheit.
     
    Sokrates’ Eros-Theorie ist noch aus anderen Gründen problematisch. Erstens beruht sie auf Verwechslungen: Sex ist die Voraussetzung, um Kinder zu zeugen, aber die Lust beim Akt ist etwas anderes als der Wunsch, Nachfahren zu haben. Und die meisten Menschen wollen sicher nicht Kinder haben, um sich zu verewigen, sondern einfach, weil es toll ist, Kinder zu haben. Sokrates überintellektualisiert den Menschen, indem er all dessen Vorlieben als Folge eines Unsterblichkeitsstrebens deutet. Viele Wünsche entstehen jedoch nicht in unserem Verstand, sondern tief in unseren Eingeweiden: Hunger, Wut, Lust. Außerdem bleibt uns Sokrates für seine Behauptungen die Begründungen schuldig. Gerade für starke Thesen braucht man gute Argumente. Die sucht man im
Symposion
vergeblich.
    Sokrates öffnet uns allerdings die Augen für die Vielschichtigkeit des Themas. Wenn auch gut versteckt, finden sich in seinen Einlassungen alle wichtigen Fragen der Ästhetik, auf die die Forschung bis heute Antworten zu finden versucht. Zum Beispiel: Welche Dinge können eigentlich schön sein? Sokrates nennt Jünglinge, Taten, die Erkenntnis und Artefakte, also vom Menschen erschaffene Dinge. Im Alltag kennen wir jedoch noch mehr Schönes. Wir sagen, dass der Zoobesuch mit den Kindern schön war. Wir finden die Natur schön, ebenso wie die Vorstellung, in den Urlaub zu fahren. Und einige Wissenschaftler kennen nichts Schöneres als mathematische Formeln. Es scheint, als könnte so gut wie alles schön sein.
    Eine andere wichtige Frage: Gibt es universell Schönes, also etwas, das jeder Mensch als schön erlebt? Sokrates’ Beispiele mögen für die freien Männer im antiken Athen gegolten haben, aber es ist mehr als fraglich, ob man sie auf Frauen und Männer aller Zeiten und Kulturen übertragen kann. Überraschenderweise sagt Sokrates im
Symposion
gar nichts zu der naheliegenden Frage, was Menschen eigentlich schön macht.
    Im Folgenden geht es um genau diese und ein paar verwandte Fragen: Wie reden wir über Schönheit? Was passiert in uns, wenn wir etwas schön finden? Gibt es ewige Schönheit? Welche evolutionäre Funktion hatte unser Schönheitssinn? Und: Was hat Kunst heutzutage eigentlich noch mit Schönheit zu tun?

Können wir unseren Urteilen trauen?
    In den achtziger Jahren kannte in Deutschland jeder den Pepsi-Test. Studien hatten angeblich gezeigt, dass Versuchspersonen mit verbundenen Augen Pepsi-Cola gegenüber Coca-Cola bevorzugen. Mit diesem Ergebnis warb die Getränkefirma Pepsi in einer aggressiven Kampagne und startete den sogenannten «Cola-Krieg», allerdings ohne sichtbaren Erfolg. Weltweit schlagen die rot-weißen Flaschen bis heute die rot-weiß-blauen. Angenommen, die Studie war repräsentativ: Dann täuschten sich Menschen aller Nationen in ihrem Cola-Geschmack. Kenner wissen natürlich, dass Afri-Cola beiden Konkurrenten weit voraus ist. Aber ein einfacher Afri-Test würde niemals für die Marktführung ausreichen. Versuche legen nahe, dass die Vertrautheit mit dem Logo, dem Namen und dem Lebensgefühl der Marke das ursprüngliche Geschmackserlebnis übertrumpfen kann. Je öfter wir das Logo erblicken, desto besser schmeckt uns das dunkelbraune Kaltgetränk. Oder jedenfalls würden wir das denken. Mit Pepsi und Coca kann Afri also nicht mithalten.
    Für die Werbeindustrie ist das eine gute Nachricht. Mit einer Kampagne kann man die Urteile über eines der grundlegenden ästhetischen Erlebnisse beeinflussen: das Schmecken. Für die Ästhetik bedeutet das: Wir machen uns oft etwas vor und können deshalb unseren eigenen Geschmacksurteilen nicht trauen. Und denen anderer schon gar nicht. Wir sagen zwar selten über eine Cola: «Schmeckt schön!», aber im Prinzip scheint sich unsere Vorliebe für Erfrischungsgetränke nicht von unserer Vorliebe für Gerüche, Farben oder Klänge zu unterscheiden.
    Man kann den Pepsi-Test leicht auf die Musik übertragen: Jährlich erklimmen Politiker und andere Honoratioren den Grünen Hügel, um die Bayreuther Festspiele zu besuchen. Unwahrscheinlich, dass alle Richard Wagners Opern lieben. Viele werden die Juchzer der Walküren Brünnhilde, Schwertleite und Waltraute eher anstrengend finden. Trotzdem sind nach der Aufführung alle begeistert, selbst wenn der Dirigent uninspiriert bis lahm und die Aufführung altmodisch bis provinziell war. Machen wir den Wagner-Test: Hörproben aus der Walküre gegen die Filmmusik von
Gladiator
. Man darf vermuten, dass einige

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