Folge dem weißen Kaninchen
sich das Bild eines Flusses oder Stromes. Der amerikanische Philosoph und Gründervater der experimentellen Psychologie, William James, sprach vom «Strom der Gedanken» oder dem «Strom des Bewusstseins». Gedanken, Gefühle, Wünsche und Wahrnehmungen kommen und gehen. Interessanterweise bleiben wir als Personen dabei bestehen. Natürlich verändern wir uns auch, wir werden erwachsen, manchmal traumatisiert oder verbittert, manchmal glücklich und zufrieden, und vielleicht sogar weise. Aber dennoch bleiben wir wir.
Nicht nur James, sondern auch der österreichisch-deutsche Philosoph Edmund Husserl hat deutlich gemacht, dass sich unser Bewusstseinsstrom genauso kontinuierlich verändert wie die Welt um uns herum. Diese Tatsache ist so selbstverständlich, dass sie uns zunächst gar nicht auffällt. Es sei denn, wir waren in den neunziger Jahren in einer Großraumdisco mit Stroboskoplicht und haben uns gefragt, wie die Welt aussähe, wenn die Sonne eine große Stroboskoplampe wäre. Auch hier liefert die Medizin einen eindrücklichen Kontrastfall zum Alltagserleben, der der Lichtblitzerfahrung sehr ähnlich ist: Patienten, bei denen der sogenannte Bereich V 5 der visuellen Hirnrinde geschädigt ist, leiden manchmal an
Akinetopsie
. Sie können keine Bewegung mehr wahrnehmen, sondern erleben die Welt um sich herum als eine Reihe von Schnappschüssen ohne flüssigen Übergang. Diesen Zustand kann man auch kurzfristig bei gesunden Menschen erzeugen, wenn man die entsprechende Hirnregion mit einem stark wechselnden Magnetfeld von außen stimuliert – eine Methode, die den Namen
transkranielle Magnetstimulation
trägt.
Bewusstsein ist also ein Feld, das sich kontinuierlich verändert, weil darin alles im Fluss ist. Dabei befinden sich einige Bewusstseinszustände am Rand des Feldes, andere im Zentrum der Aufmerksamkeit. Dieser Fokus ist auch der Schlüssel, um die anderen Bedeutungen von «Bewusstsein» zu erklären. Um etwas absichtlich zu tun, müssen wir unsere Aufmerksamkeit darauf lenken. Was unserer Aufmerksamkeit nicht entgangen ist, können wir uns gut merken, sodass es zu abrufbarem Wissen wird. Wer reflektiert, lenkt seine Aufmerksamkeit auf sein Innenleben: «Was will ich wirklich? Warum bin ich so schlecht drauf?» Das «Erkenne dich selbst!» vieler Lebensberater meint also oft nicht mehr, als den Fokus von außen nach innen zu verlagern.
Ganz gleich jedoch, wie exakt man sein bewusstes Erleben beschreiben mag, das Subjektive des Bewusstseins ist vielen Philosophen zufolge etwas Rätselhaftes. Mit Gedankenexperimenten kann man gut verdeutlichen, warum es ihnen so viel Kopfzerbrechen bereitet.
Gedankenexperimente: Fledermäuse, Mary und Zombies
Wie wäre mein Leben verlaufen, wenn sie nicht plötzlich im strömenden Regen vor meiner Tür gestanden und mich mit ihren großen braunen Augen angeschaut hätte? Hätte der Torwart den Ball gehalten, wenn der Stürmer ins linke Eck geschossen hätte? Könnten alle Menschen auf der Welt in Frieden und Wohlstand leben? Wäre ich im Nationalsozialismus ein Mitläufer gewesen?
Fragen dieser Art kennen wir. Ein Freund von mir sagt immer: «Wer im Konjunktiv lebt, macht sich unglücklich.» So gerne man diesem Ratschlag folgen und ausschließlich in der Wirklichkeitsform des Indikativs leben möchte, im Alltag kommt man ohne «wenn» und «aber», «hätte» und «würde» nicht aus. Bei jedem «Was wäre, wenn?» führen wir ein kleines
Gedankenexperiment
durch. Wir stellen uns einen alternativen Weltlauf vor, wir simulieren im Geiste eine andere Folge von Ereignissen, manchmal sogar einen anderen Weltzustand. Auch wenn wir oft nicht wissen können, was wirklich passiert wäre, und auch wenn man uns sagt, diese Gedankengänge seien müßig, wollen wir nicht auf sie verzichten. In moralischen Fragen und in der Rechtsprechung sind sie sogar unverzichtbar: «Hätten die Ingenieure die Flugtriebwerke besser kontrolliert, wäre das Unglück nicht geschehen», «Wäre sie nicht so mutig eingeschritten, hätte sie die Kinder nicht gerettet». Diese Schlussfolgerungen haben Hand und Fuß. Gäbe es sie nicht, dürfte man kein Bundesverdienstkreuz vergeben oder Straftäter verurteilen. Nicht einmal den vorherigen Satz könnte man formulieren.
Im Gegensatz zu den Experimenten der Chemie oder Physik, bei denen es brodelt und qualmt, sind Gedankenexperimente Versuchsanordnungen der Vorstellungskraft. Sie beruhen auf dem Wissen, das wir schon über die Welt gesammelt
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