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Folge dem weißen Kaninchen

Folge dem weißen Kaninchen

Titel: Folge dem weißen Kaninchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Hübl
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haben. Gedankenexperimente haben nicht nur in der Philosophie, sondern auch in der theoretischen Physik eine lange Tradition. Albert Einstein hat sich vorgestellt, auf einem Lichtstrahl zu reiten. Nach der klassischen Physik entsteht daraus ein Zeitparadox, das Einstein durch seine Relativitätstheorie auflöste, indem er annahm, dass es keine absolute Zeit gibt. Auch Romane und Filme sind phantasievolle Gedankenexperimente. Realistische Geschichten wandeln den tatsächlichen Zustand des Universums nur wenig ab. Sie präsentieren uns einen alternativen Weltlauf, ohne an den Naturgesetzen zu rütteln. Die Genres Märchen, Science-Fiction, Fantasy und Horror gehen noch ein paar Schritte weiter. Hier entstehen ganz neue Welten mit eigenen Naturgesetzen und kuriosen Kreaturen: Vampiren, Werwölfen, Zauberlehrlingen in unsichtbaren Internaten, Prinzessinnen im hundertjährigen Tiefschlaf und zotteligen Kopiloten in Raumschiffen, die schneller als das Licht fliegen.
    Gerade die zeitgenössischen angloamerikanischen Philosophen fühlen sich sowohl der Naturwissenschaft als auch der Popkultur verbunden. So kommt es zur Geburt unzähliger Gedankenexperimente aus dem Geiste der Physik und der Science-Fiction. Wenn es um das Bewusstsein geht, sind Gedankenexperimente besonders beliebt. Auch hier gibt es einen ganzen Zoo von wundersamen Wesen, beispielsweise ein denkendes Sumpfding, das durch einen Blitzeinschlag entstanden ist, oder einen Superspartaner, der buchstäblich nicht einmal mit der Wimper zuckt, wenn er die unsäglichsten Schmerzen erlebt. Bei diesen Beispielen geht es nicht in erster Linie um «Was wäre passiert, wenn …?», sondern vor allem um «Wäre das ein Fall von …?». Es geht also um unsere begrifflichen Intuitionen, beispielsweise, ob man überhaupt von «Wahrnehmung» sprechen kann, wenn verrückte Wissenschaftler das Gehirn so manipuliert haben, dass einem die ganze Welt vorgegaukelt wird wie im Film
The Matrix
.
     
    Drei der berühmtesten Gedankenexperimente zum Bewusstsein zielen auf die Frage, ob man das Erlebnisbewusstsein jemals naturwissenschaftlich erklären kann. Der amerikanische Philosoph Thomas Nagel fragt sich, wie es ist, eine Fledermaus zu sein, also sich mit Ultraschall in der Welt zu orientieren. Fledermäuse stoßen Schreie aus und benutzen das von Hindernissen zurückkommende Echo, um im Flug durch Höhlen und Baumkronen hindurchzunavigieren. Diese Töne sind für den Menschen weitgehend unhörbar. Wenn wir uns nun vorstellen, wie wohl die Fledermaus die Räumlichkeit der Welt subjektiv erlebt, merken wir schnell, dass unsere Imaginationskraft an ihre Grenzen stößt. Wir können uns vorstellen, mit den Beinen an der Decke zu hängen oder beim Karneval ein Batmankostüm zu tragen, aber wir können nicht nachempfinden, wie es ist, die Welt mit Hilfe hochfrequenter Schallwellen räumlich zu erfahren. Man könnte einwenden, dass wir uns auch nicht vorstellen können, wie es ist, ein anderer Mensch zu sein; wir kennen ja nur unser eigenes Erleben. Das ist zwar ein guter Punkt, aber Nagel geht es nicht um diesen skeptischen Einwand. Ihm geht es darum, wie Fledermäuse ihre Echo-Orientierung
erleben
, die wir nicht haben. Wenn wir die niemals beschreiben können, dann bleibt auch eine vollständige Beschreibung der Welt im Vokabular der Naturwissenschaft aussichtslos. Über Fledermäuse können wir noch so viel forschen, wir können Flugvektoren, Frequenzüberlagerungen und Schallmuster berechnen und analysieren, aber etwas wird immer fehlen: das Erlebnisbewusstsein der Fledermaus.
    Ein ähnliches und ebenso berühmtes Gedankenexperiment hat sich der australische Philosoph Frank Jackson ausgedacht: Mary war ihr Leben lang in einem Zimmer eingesperrt, in dem alles schwarzweiß ist, selbst ihr eigener Körper. Kurioserweise ist Mary jedoch eine Spitzenwissenschaftlerin auf dem Gebiet der Farbwahrnehmung: Sie weiß alles über Lichtstrahlen, die Zäpfchen und Stäbchen in der Netzhaut, die Sehrinde im Hirn und so weiter. Eines Tages verlässt sie nun ihre monochromatische Studierstube und sieht die Welt in ihrer bunten Vielfalt. Lernt sie dadurch etwas Neues über Farben? Intuitiv bejahen wir diese Frage. Doch dann muss es neben dem kompletten physikalischen und physiologischen Wissen noch mehr über Farben zu wissen geben. Anders gesagt: Wir haben die Intuition, dass die Naturwissenschaft niemals Farben vollständig beschreiben und erklären kann, weil immer etwas fehlen wird – das

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