FOOD CRASH
der
Agroécologie
über 100 verschiedene Nutzpflanzen ausgemacht hat!
Einen solchen Bewusstseinswandel zeigt auch das zweite Erkennungszeichen: die
Wertschätzung organischer Reststoffe
als Quelle der Fruchtbarkeit anstatt als »fatras« – Abfall. Diese fortschrittliche Einstellung kann nur entstehen, wenn die Menschen verstanden haben, dass der Boden ein lebendiger Organismus ist. Von seiner Vitalität hängt auch seine Fähigkeit ab, Frucht hervorzubringen. Vielleicht erinnern Sie sich noch an die Sichtweise, dass aus kleinen Steinen große werden, von der ich im Zusammenhang mit der Erosion in Haiti erzählt habe? Von dort bis hin zur Erkenntnis, dass »Manman Tè« – Mutter Erde – unter der menschlichen Pflege gedeihen kann, ist es ein weiter Weg!
Das wird auch durch die dritte, etwas überraschende Antwort gekennzeichnet: Wer
Agroécologie
betreibt,
lehnt Stoffe ab, die Manman Tè nicht essen kann.
Gemeint ist damit vor allem Plastik. Wer in Ländern der Dritten Welt gewesen ist, wird sie kennen: Plastikfetzen, die überall herumfliegen und -liegen und durch die selbst die schönste Landschaft den Eindruck einer Müllhalde hinterlässt. So ist das auch in Haiti, und zwar bis in den letzten Winkel. Was für ein schöneres Zeichen für ein gewachsenes Verständnis natürlicher Kreisläufe könnte man sich vorstellen als dieses: Organischen Abfall muss man als Reichtum verstehen, Plastik als einen unverdaulichen Fremdkörper!
Dass als viertes Erkennungszeichen
Zusammenhalt und Gemeinschaftsgeist
bezeichnet wird, zeigt, dass sich die Bauern, die
Agroécologie
betreiben, sehr bewusst als Leute verstehen, die einen besonderen Weg gehen. Anders als die anderen, die tun, was auch in Haiti konventionell geworden ist: eine Landwirtschaft, die versucht, der Natur mit Hilfe eines hohen Kapitaleinsatzes Erträge abzuringen, um eine Handvoll Pflanzen wie Mais, Bohnen, Zuckerrohr und Reis zu Höchsterträgen zu bringen.
Inzwischen habe ich auch die Berichte des in Haiti für diesen Bereich verantwortlichen Misereor-Mitarbeiters gelesen. Dr. Kurt Habermeier arbeitet seit langem mit dem System
Agroécologie
und hat dazu auch ein Lehrbuch in der haitianischen Landessprache Kréol geschrieben. [99] Im Jahr 2010 besuchte er mehrere Monate lang Bauernfamilien, nahm an Versammlungen teil und führte Beratungsgespräche. Mittlerweile sind es 12 000 Familien, die sich im Süden Haitis in verschiedenen Regionen zusammengeschlossen haben, um auf
Agroécologie
zu setzen. Sehr deutlich ist aus den Berichten herauszulesen, dass die Qualität dessen, was in diesen Regionen realisiert wird, außerordentlich unterschiedlich ist – von Gruppierung zu Gruppierung, von Familie zu Familie. Das ist auch nicht weiter erstaunlich, denn so einfach es einerseits sein mag, die Grundprinzipien einzuhalten, so schwer ist es andererseits, sie rundum zum Gelingen zu führen. Dafür muss man enorm viel wissen, enorm viel verstehen: Das Zusammenwirken der verschiedenen Pflanzenarten, die Übertragung der Erkenntnisse auf die Bedingungen bei Madame Joliceur bis zu denen von Monsieur Téléus, die beim jeweiligen Boden in der jeweiligen Hangneigung ideale Form des Erosionsschutzes, das Entwickeln eines Haufens von Blättern, Schalen, Zweigen und Ziegenkot zu einem feinen, fruchtbaren Kompost – das bedarf Fähigkeiten, die erheblich schwerer zu erwerben sind als die bloße Umsetzung der Gebrauchsanleitung auf dem Düngersack oder dem Spritzmittelkanister.
Um all das zu lernen, braucht es nicht nur einen wachen Geist und eine fruchtbare Neugier. Es braucht auch die Bereitschaft, überholte Gewohnheiten und Sichtweisen abzuwerfen und sich Neuem aufzuschließen, also Eigenschaften, deren Entwicklung umso schwerer fällt, je traditioneller eine Gesellschaft gestrickt ist. Das gilt für jede Bäuerin und ihren Mann, aber das gilt noch viel mehr für den Techniker, der sie beraten soll. Denn sein Kopf steckt voll mit Wissen, das er in seiner Schule oder Universität erworben hat und das er der Beobachtung, der Erfahrung und nicht selten der Weisheit der Alten unterzuordnen bereit sein muss.
Das beeindruckendste und überzeugendste Argument für den Erfolg des
Agroécologie
-Konzeptes steht ganz am Ende des Berichtes: »Gespräche mit jungen führenden Bauern aus den verschiedenen Regionen haben mir gezeigt, dass etliche unter ihnen ein eigenes Selbstwertgefühl entwickelt haben: Sie schämen sich nicht mehr, Bauern aus den Bergen zu sein,
Weitere Kostenlose Bücher