For the Win - Roman
Vielleicht würde sie ihre Tochter schlagen, doch Yasmin machte das nicht viel aus. Die Sache war es wert. Sie und Ashok waren noch Stunden auf dem Studiogelände geblieben und hatten alles ausdiskutiert, bis ihre Idee Gestalt angenommen hatte. Ehe sie zurückgefahren waren, hatte er noch eine lange, detaillierte Nachricht für Schwester Nor geschrieben.
An jeder Kreuzung tippte Yasmin ihm auf die Schulter und wies ihm den Weg. Bald hatten sie fast ihr Zuhause erreicht, und sie rief ihm durch den Helm zu, er solle anhalten. Er machte den Motor aus, das Licht erlosch, und Yasmins Hinterteil hörte endlich zu vibrieren auf. Ihre Schenkel schmerzten. Ungeschickt schwang sie sich vom Roller und griff nach ihrem Helm, als sie die Stimmen hörte.
»Ist sie das?«
»Bin mir nicht sicher.«
Sie flüsterten laut, und durch die Öffnung des Helms schien es ihr, als kämen die Stimmen direkt von der Seite. Sie legte Ashok die Hand auf die Schulter.
»Sie ist es.« Die Stimme klang hart. Es war Mala.
Yasmin ließ Ashok los und griff nach den Spanngurten, die den lathi am Roller hielten, während sie mit der anderen Hand das Visier hochklappte. Sie hatte den Hidschab wieder tiefer befestigt und war jetzt sehr froh darum, denn so hatte sie eine recht gute Sicht. Es war lange her, dass sie in eine handgreifliche Auseinandersetzung verwickelt gewesen war, aber mit den wichtigsten Prinzipien und der Taktik eines solchen Kampfes kannte sie sich aus.
Der lathi war wirklich gut befestigt – Ashok hatte verhindern wollen, dass er sich mitten im Verkehr löste – , und sie musste ihre zweite Hand zu Hilfe nehmen, um ihn zu lösen, während sie in die Schatten spähte und auf Schritte lauschte.
»Was ist mit dem Mann?«
»Ihn auch«, sagte Mala.
Und dann griffen sie an, eine ganze Armee, die von überallher aus den Schatten sprang. » FAHR LOS !«, rief Yasmin Ashok zu und versuchte ihn am Absteigen zu hindern, doch er sprang ab und stellte sich den Angreifern breitbeinig entgegen. Ein Stein oder Zementbrocken prallte von ihrem Helm ab. Es klang, wie wenn ein Kochtopf zu Boden fällt, und sie zerrte jetzt so fest sie konnte an dem lathi . Endlich bekam sie ihn frei. Die Haken am Ende des Gurts peitschten die Luft und trafen ihre Hände, doch sie bemerkte es kaum und wirbelte herum, den langen Stock wie einen Cricketschläger erhoben.
Sie erstarrte.
Ihr am nächsten stand Sushant. Sushant, der noch heute Nachmittag davon geredet hatte, wie gerne er sich ihrer Sache anschließen würde. In dem schwachen Licht, das aus den umliegenden Fenstern fiel, war sein Gesicht eine Maske der Angst. Die Stockspitze zitterte über ihrer Schulter, ihre Handgelenke verkrampften sich. Sie musste bloß den Schwung vollenden, die Metallspitze mit der Macht eines Peitschenknalls durch die Luft sausen lassen, und sie würde dem armen Sushant den Schädel zertrümmern.
Und wieso auch nicht? Schließlich war Malas Armee aus genau diesem Grund hier.
Die Gedanken durchzuckten sie so schnell, dass sie ihr gar nicht bewusst waren. Aber sie zielte nicht auf Sushants Kopf. Stattdessen schlug sie fest nach seinen Beinen, sodass es ihn zurückwarf. Er stolperte gegen zwei weitere Angreifer, beides Jungen, die einst Yasmins Kommandos befolgt hatten.
»Zurück!«, befahl sie und schwang den lathi abermals wie einen Besen. Die Jungen machten einen Satz rückwärts, die Augen so groß, dass sie das Weiße in ihnen sah. Sushant weinte. Sie hatte Knochen brechen gehört, als die Spitze des Stocks seinen Knöchel getroffen hatte. Er stützte sich auf seine beiden Freunde, die um ihr Gleichgewicht kämpften.
Keiner sprach ein Wort. Da war bloß der kollektive Atem Dharavis, Tausende von Brustkörben, die sich hoben und senkten und dieselbe Luft einatmeten, zusammen mit dem Gestank der Gerbereien und Färbereien und dem beißenden Plastikrauch.
Dann trat Mala vor. In der Hand hielt sie eine Flasche mit einem benzingetränkten Lumpen im Hals – einen Molotowcocktail.
»Mala!«, rief Yasmin und hörte das Entsetzen in der eigenen Stimme. »Du brennst ganz Dharavi nieder!« Es war der Tonfall, mit dem sie auch Spieler ermahnte, die drauf und dran waren, die ganze Gruppe zu töten: Lass den Quatsch, du bringst uns noch um, du Idiot!
Für Mala war es der falsche Tonfall. Sie versteifte sich und drehte das Rad eines Einwegfeuerzeugs – ritsch … ritsch …
Abermals bewegte sich Yasmin, ohne nachzudenken: zwei Schritte vor, den lathi über der Schulter, der mit
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