For the Win - Roman
näher und fragt, sich der Absurdität des Ganzen vollauf bewusst und auch ein wenig verzweifelt, als ob ihm die Scheibe gleich entgleiten könnte: »Würden Sie das bitte einen Moment halten?«
Also nimmt man ihm das Ding ab. Es ist zerbrechlich. Groß. Schwer. Wirklich unpraktisch.
Da steckt einem der Fremde, immer noch ein Lächeln auf den Lippen, rasch und zielsicher die Hände in die Taschen und schnappt sich Schlüssel, Geldbeutel, einfach alles. Er braucht dafür höchstens zehn Sekunden und sieht einem dabei die ganze Zeit in die Augen. Danach dreht er sich um und spaziert davon, ganz ohne Hast, ein Dutzend Schritte vielleicht – dann nimmt er die Beine in die Hand und saust davon wie Daffy Duck.
Man selbst hält noch immer die Scheibe in der Hand.
Und wieso hält man noch immer die Scheibe in der Hand?
Was soll man denn machen? Sie fallen lassen, sodass sie auf dem fremden Bürgersteig zerbricht? Sie vorsichtig absetzen?
Eins tut man jedenfalls ganz bestimmt nicht: dem Mann nachrennen. Mit einer zehn Kilo schweren scharfkantigen Scheibe in Händen zu rennen, ist sogar noch dümmer, als sie einem Fremden abzunehmen.
»Und wieso kann ein solcher Trick funktionieren?« Schwester Nor, die diese Frage im Anschluss an ihre Parabel an alle richtete, war im Fenster der Videokonferenz eingeblendet. Links und rechts von ihr saßen der Mächtige Krang und Justbob, ebenfalls über ihre Bildschirme gebeugt. Sie betreuten den Chat, während Schwester Nor dozierte. Sie erteilte ihre Lektion erst auf Mandarin, dann auf Hindi. Der Chat wurde in drei Alphabeten und fünf Sprachen geführt, mit automatischen Übersetzungshilfen: Englisch für Wei-Dong, Chinesisch für seine Gilde. Mehrere tausend Leute waren momentan zugeschaltet, und später warteten noch zehntausende weitere auf sie, sobald deren Schicht beendet war.
»Dingleberry in Kuala Lumpur meint, es liegt an der ›Desorientierung‹«, gab der Mächtige Krang durch, ohne aufzusehen.
Schwester Nor nickte. »Und an was noch?«
»An ›grundsätzlichen gesellschaftlichen Vereinbarungen‹«, sagte Justbob. »Das kommt von MrGreen in Singapur.«
Schwester Nor grinste grimmig. »Singapur, wo sie von so was ja so viel Ahnung haben. Aber gut! Genau darum geht es: Jemand kommt auf einen zu und bittet um Hilfe, und man hilft ihm einfach – das sagen einem die Instinkte, die Erziehung … Das ist es, was uns zu zivilisierten Menschen macht.«
Als Nächstes erzählte sie ihnen eine Geschichte von ein paar Arbeitern in Phnom Penh. Es ging um Goldfarmer, die für jemanden arbeiteten, der eigentlich immer sehr nett zu ihnen war, sie einmal die Woche zum Essen einlud, ihnen Essen und Filme mitbrachte, wenn sie mal länger arbeiten mussten, dem aber immerzu kleine … Fehler … bei den Lohntüten zu unterlaufen schienen. Es fehlte nie viel, und er schämte sich auch immer sehr und zahlte den Restbetrag bald nach, und er schämte sich noch mehr, wenn er den Zahltag mal »vergaß« und ihnen ihr Geld erst zwei, drei Tage später gab. Aber er war ihr Freund, ein guter Freund, und sie hatten eine ungeschriebene Vereinbarung mit ihm, die besagte, dass sie alle gute Freunde waren. Und gute Freunde bezeichneten einander nicht als Diebe.
Und dann verschwand er.
Eines Tages kamen sie zur Arbeit – drei Tage nach dem Zahltag, und natürlich hatten sie noch nichts gekriegt – , und der Mann, dem das Internetcafé gehörte, zuckte bloß die Achseln und meinte, er habe auch keine Ahnung, wohin ihr Boss verschwunden sei. Ein paar der Leute arbeiteten sogar noch weiter, ein, zwei Tage lang, denn ihr guter Freund musste doch irgendwann wieder auftauchen! Dann kamen sie nicht mehr an ihre Accounts heran; alle Charaktere, die sie hochgespielt hatten, auch ihre eigenen, mit denen sie die besonders seltenen Items gesammelt hatten – einfach weg.
Die meisten gingen nach Hause. Die meisten fanden andere Jobs. Irgendwann aber trafen ein paar von ihnen ihren alten Boss wieder. Er betrieb wieder eine Goldfarm und hatte neue Arbeiter gefunden. Er versank fast im Boden, als er sie sah, er weinte und flehte sie um Verzeihung an; seine Gläubiger hätten ihr Geld gewollt, er habe untertauchen müssen, um ihnen zu entgehen, doch er wolle alles wiedergutmachen, denn er liebe seine Freunde wie seine eigenen Kinder. Er würde sie wieder einstellen, mit doppelten Löhnen, wenn sie ihm nur noch eine Chance gäben.
Der erste Zahltag kam. Ein Tag verging. Dann zwei. Dann drei. Dann kam der Boss
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