For the Win - Roman
Sachen zu packen, ehe ihre Mutter und ihre Brüder nach Hause kamen. Sie wusste nicht, wohin sie fahren und wie lange sie weg sein würde. Und das Letzte, was sie jetzt wollte, war, ihrer Mutter das alles erklären zu müssen. Sie würde ihr eine Nachricht schreiben. Einer ihrer Brüder würde sie ihr vorlesen. So was wie: »Bin geschäftlich für die Gewerkschaft unterwegs. Bin bald zurück. Liebe Grüße.« Das musste reichen, denn mehr wusste sie schließlich auch selbst nicht.
Auf dem langen Weg zum Bahnhof schwankte ihre Stimmung zwischen Nervosität, Neugierde und Angst. Es war dumm, was sie tat, aber ihr blieb keine andere Wahl. Wenn Schwester Nor sich für diesen Mann verbürgte – sie kannte nicht mal seinen Namen! – , wie konnte Yasmin ihn da infrage stellen?
Je näher sie dem Rand von Dharavi kam, desto breiter wurden die Straßen. Bald waren sie breit genug, dass ein paar dürre Jungs barfuß Cricket auf ihr spielten. Sie riefen ihr Sachen zu – »Anstößigkeiten«, wie ihr Lehrer Mr. Hossain es immer genannt hatte, wenn die Jungen vor der Schule die Mädchen auf dem Heimweg belästigten. Sie hatte aber gelernt, so was zu ignorieren, und außerdem hatte sie den lathi ihres Bruders Abdur dabei und benutzte ihn als Spazierstock. Die Oberseite hatte sie mit einem alten Hidschab umwickelt, damit die Spitze nicht so auffiel. Auf dem Schulhof hatte sie mit ähnlichen Stöcken gespielt, allerdings ohne das Metall an der Spitze. Sie glaubte aber, dass sie gut genug damit umgehen konnte, um jeden zu vertreiben, der sich ihr an diesem wichtigen Tag in den Weg stellte. Erst als sie schon den Bahnhof erreichte, fiel ihr auf, dass sie keine Ahnung hatte, wie sie den Stock auf dem kleinen Roller transportieren sollten.
Sie hatte ihr Handy mitgenommen, damit sie wenigstens wusste, wie spät es war. Und obwohl nun eine Stunde vergangen war, war von dem Fremden mit dem kurzen gegelten Haar nichts zu sehen. Weitere zwanzig Minuten verstrichen. Für sie war das nichts Neues: Nichts in Dharavi war pünktlich, außer den Rufen des Muezzins, den morgendlichen Hahnenschreien und dem Appell in Malas Armee. Nachzügler, die zu spät zur Schlacht erschienen, wurden streng diszipliniert.
Züge fuhren ein und wieder ab. Sie erkannte ein paar Leute: Freunde ihres Vaters, die im richtigen Mumbai arbeiteten. Vielleicht hätten die auch sie erkannt, wenn sie ihren Hidschab nicht bis über die Nase gezogen hätte. Sie war sich der starrenden Hindujungs mehr als bewusst. Offiziell kamen Hindus und Moslems ja nicht miteinander aus. Inoffiziell kannte sie natürlich genauso viele Hindus wie Moslems in Dharavi, in der Armee oder Schule. Doch im unpersönlichen großen Gesamtbild gehörte sie immer zu den anderen . Die Hindus waren die »echten« Einwohner Mumbais. Ihre Eltern beharrten darauf, die Stadt »Bombay« zu nennen, wie sie früher geheißen hatte, bevor die strengen Hindu-Nationalisten den Namen geändert und verkündet hatten, Indien gehöre allein den Hindus; sie und ihre Leute sollten doch zurück nach Bangladesch oder Pakistan gehen, wo die Moslems in der Mehrzahl waren, und Indien den echten Indern überlassen.
Meistens kümmerte sie das nicht, denn in der Regel traf sie sich nur mit den Leuten, die sie kannte. Und ihre Netzbekanntschaften interessierten sich eher dafür, ob sie ein Ork oder eine Feuerelfin war – ob sie eine Muslima war, spielte keine Rolle. Doch hier, am Rand ihrer Welt, war sie nur ein Mädchen mit einem Hidschab, einem bodenlangen, sittsamen Gewand mit Augenschlitz, und einem langen Stock, und alle starrten sie an.
Sie vertrieb sich die Zeit damit, sich vorzustellen, wie sie den Bahnhof mit Waffensystemen aus verschiedenen Spielen angreifen oder verteidigen würde. Wenn alle Menschen wären, würde sie ihre Mechs hier, hier und hier positionieren und das Schienenbett als Graben nutzen, um die Gegner in Reichweite der Flammenwerfer zu locken. Wenn sie mit Fahrzeugen kämpfte, würde sie diese Straße mit ihren Autos einkreisen, diese mit ihren Motorrädern, und mit dem Schlachtwagen von dort kommen . Sie lächelte im Schutz ihres Hidschab.
Endlich kam der junge Mann, auf den sie wartete. Er hielt mit seinem grünen Roller auf dem Parkplatz und rieb sich mit dem Hemd den Straßenstaub von der Brille. Dann warf er nervöse Blicke zu den Leuten vor dem Bahnhof hinüber – Arbeiter, die es eilig hatten, Jugendliche, die herumhingen, und Bettler, die sich jedem in den Weg stellten. Mehrere davon
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