Forbidden
vor, du sitzt im Unterricht und –«
Ich höre ihr nicht mehr zu und hole tief Luft. Enttäuschung macht sich in mir breit. Es gibt nichts, wird mir in diesem Augenblick klar, was mit unserer Situation vergleichbar wäre.
»Dann gibt es heutzutage keine Tabus mehr?«, frage ich. »Und du würdest sagen, dass zwei Menschen, die sich lieben, niemals gezwungen werden dürfen, auf ihre Liebe zu verzichten?«
Francie denkt einen Moment nach. »Ja, glaub ich«, meint sie dann. »Jedenfalls nicht bei uns. Wir leben zum Glück in einem Land, das ziemlich liberal ist. Solange eine Person die andere nicht zu etwas zwingt, ist vermutlich jede Art von Liebe erlaubt.«
Jede Art von Liebe. Francie ist nicht dumm. Doch die eine Art von Liebe, die vermutlich niemals erlaubt sein wird, ist ihr noch nicht mal in den Sinn gekommen. Die einzige Liebe, die so tabu ist, dass sie ihr in unserem Gespräch über unerlaubte Beziehungen gar nicht eingefallen ist.
Das Gespräch zwischen uns verfolgt mich die folgenden Wochen. Obwohl ich nicht die Absicht habe, mein Geheimnis jemals irgendjemandem anzuvertrauen, denke ich immer wieder darübernach, wie Francie wohl reagieren würde, wenn sie es irgendwie herausbekäme. Sie ist intelligent, offen und hat eine rebellische Ader. Doch trotz ihrer kühnen Behauptung, dass keine Liebe falsch ist, vermute ich ganz stark, dass sie genauso abgestoßen wäre wie alle anderen, wenn sie von meiner Liebesbeziehung zu Lochan wüsste. Aber er ist dein Bruder!, höre ich sie ausrufen. Wie bringst du es fertig, Sex mit deinem Bruder zu haben? Das ist echt krass! Maya, das ist krank! Du bist krank! Du brauchst Hilfe. Und das Seltsame daran ist, dass etwas in mir ihr auch zustimmt. Etwas in mir denkt: Ja, wenn Kit älter wäre und ich mit ihm eine Beziehung hätte, dann wäre es das auch. Es ist undenkbar, ich mag es mir gar nicht vorstellen. Davon wird mir gleich schlecht. Aber wie soll ich dem Rest der Welt klarmachen, dass Lochan und ich nur aufgrund eines biologischen Zufalls Bruder und Schwester sind? Dass wir nie wirklich Geschwister waren, sondern immer schon Partner, die für eine Familie sorgen mussten, während sie selbst heranwuchsen? Wie soll ich begreiflich machen, dass Lochan sich für mich nie wie ein Bruder angefühlt hat, sondern mir immer schon viel, viel näher stand – als Seelenverwandter, als Gefährte, als bester Freund? Dass ich ihm immer schon mit jeder Faser meines Herzens angehört habe? Wie erklären, dass diese Situation, die Liebe, die wir füreinander empfinden – alles, was die anderen wahrscheinlich als krank, abstoßend und widerlich bezeichnen –, sich für uns völlig natürlich und selbstverständlich und wunderbar anfühlt und einfach nur richtig?
Nachts, wenn wir uns geküsst und miteinander gekuschelt haben, liegen wir da und reden, reden bis tief in die Nacht. Wir reden über alles, was uns durch den Kopf geht, und erzählen uns alles: was Kit, Tiffin und Willa getrieben haben, Anekdoten ausder Schule, was wir füreinander empfinden. Und seit ich entdeckt habe, dass er auf der Treppe ein richtiges Gespräch mit einem Jungen aus seiner Klasse geführt hat, reden wir auch über seine neu gefundene Stimme. Obwohl er es herunterspielt, kommt er nicht umhin, mir zu gestehen, dass Declan irgendwie so etwas wie ein Freund geworden ist. Declan hatte ihn angesprochen, als er mitbekam, dass Lochan auch ein Angebot für einen Studienplatz an der UCL erhalten hatte. Lochan vermeidet es in seiner Klasse zwar immer noch, mit anderen außer Declan zu reden, aber ich bin überglücklich. Die Tatsache, dass er eine Beziehung zu jemandem außerhalb der Familie eingegangen ist, beweist, dass er es kann. Dass er es auch mit vielen anderen schaffen kann. Sobald er einmal auf der Uni ist, wird es da viel mehr Leute geben, die auf seiner Wellenlänge sind. Als Lochan mir dann eines Nachts erzählt, dass er es tatsächlich geschafft hat, in Englisch vor der ganzen Klasse einen Aufsatz vorzulesen, gebe ich einen Aufschrei von mir, den ich gleich im Kopfkissen ersticke.
»Wie kommt das?«, frage ich freudestrahlend. »Was hat sich geändert? Was ist geschehen? Warum hast du es auf einmal geschafft?«
»Ich hab drüber nachgedacht – was du alles gesagt hast. Dass ich einen Schritt nach dem anderen machen soll und dass du, na ja, dass du dir sicher bist, ich würde das schon schaffen.«
»Und wie war’s?«, frage ich und muss mich stark bemühen, weiter zu flüstern. Ich schaue
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