Forbidden
wandern weiter, die sanfte Kante seiner Nase hinunter zu seiner gewölbten Oberlippe, deren Linien sich klarer abzeichnen als sonst, jetzt, wo sein Mund im Schlaf ganz entspannt ist. Seine Haut ist sanft und weich, fast durchscheinend, der einzige Makel ist die wunde Stelle unterhalb der Unterlippe, die er sich selbst zugefügt hat; seine Zähne haben auf der Haut immer wieder gerieben, gescheuert und gekratzt, bis dort eine kleine rote Wunde war. Ein Zeichen, wie sehr er die ganze Zeit kämpft. Was die Welt um ihn herum ihm dauernd abverlangt. Ich möchte gern darüberstreichen, sie heil machen, möchte die Verletzung, die Anstrengung, die Einsamkeit auslöschen.
Francie fällt mir ein – was sie alles über Lochan gesagt hat. Ein Mund, der zum Küssen wie geschaffen ist … Was heißt das eigentlich genau? Damals fand ich ihre Bemerkung witzig, jetzt nicht mehr. Ich möchte nicht, dass Francie Lochans Mund küsst. Sie nicht und auch kein anderes Mädchen. Er ist mein Bruder, mein bester Freund. Die Vorstellung, sie oder ein anderes Mädchen könnte ihn so sehen, so nahe, so schutzlos, ist mir plötzlich unerträglich. Sie dürfen ihn nicht verletzen, sie dürfen ihm nichtdas Herz brechen. Ich will nicht, dass er sich in irgendein Mädchen verliebt – ich will, dass er hier bei uns bleibt. Dass er uns liebt. Dass er mich liebt.
Er bewegt sich, sein Arm gleitet über meinen Oberkörper. Ich spüre die Wärme seines Körpers neben mir. Warm und verschwitzt. Ich spüre seinen Atem. Ich beobachte, wie seine Nasenflügel sich beim Einatmen jedes Mal leicht zusammenziehen, und mir wird bewusst, wie dünn und zart das Band ist, das uns mit dem Leben verknüpft. Wenn er schläft, sieht er so verletzlich aus, dass es mir fast Angst macht.
Von unten sind Rufe zu hören, ein Kreischen. Füße trappeln die Treppe hoch. Ein lautes Klopfen gegen die Tür. Tiffins aufgeregte, überdrehte Stimme, die brüllt: »Hey! Komm endlich!«
Lochans Arm verkrampft sich, und er reißt die Augen auf. Einen Moment lang starrt er mich an, mit reglosem Gesicht, ich schaue in seine grünen, blau gesprenkelten Augen. Dann ändert sich sein Ausdruck.
»Was – was ist los?«
Ich muss lächeln, weil seine Stimme noch ganz verschlafen klingt. »Nichts. Ich kann mich nicht rühren.«
Er blickt auf seinen Arm, der immer noch über meinem Oberkörper liegt, zieht ihn schnell weg und richtet sich mühsam auf.
»Warum bist du –? Was –? Was machst du hier in meinem Bett?« Er wirkt einen Augenblick verwirrt, fast in Panik, Haare hängen ihm in die Augen, sein Gesicht ist immer noch weich vom Schlaf. Auf seiner Wange sind rote Streifen von den Falten des Kopfkissens zu sehen.
»Wir haben gestern Nacht noch miteinander geredet. Es war schon sehr spät.« Ich will den heftigen Streit mit Kit nicht gleicherwähnen und auch nicht Lochans Zustand danach. »Ich glaube, wir sind dann einfach beide eingeschlafen.« Ich schiebe mich am Kopfteil des Betts hoch, ziehe die Beine an und räkele mich. »Ich konnte mich gar nicht mehr rühren, weil du mich halb erdrückt hast.«
Lochan ist ans andere Ende des Betts gerutscht, sitzt an die Wand gelehnt da und schlägt dann mit dem Kopf dagegen. Er schließt kurz die Augen. »Ich fühl mich elend«, murmelt er, mehr zu sich selbst als zu mir, und legt dann die Arme um die Knie. Sein ganzer Körper wirkt schlaff und kraftlos.
Ich mache mir sofort Sorgen. Normalerweise jammert Lochan nie. »Wo tut es dir denn weh?«
Er blickt mich an und lächelt. »Überall.«
Das Lächeln verschwindet, als ich nicht zurücklächle. Er schaut mich weiter an, seine Augen sind traurig. »Heute ist doch Samstag, oder?«
»Ja, alles ist in Ordnung. Mum ist da, und sie ist auch schon aufgestanden. Ich habe ihre Stimme unten gehört. Und Kit ist auch auf. Klingt so, als hätten sie unten alle Frühstück oder Brunch oder irgendwas.«
»Ah. Okay. Gut.« Lochan seufzt erleichtert auf und schließt dann wieder die Augen. Mir gefällt es nicht, wie er dasitzt, sich verhält, spricht. Er wirkt so hilflos und verloren, so gequält und niedergeschlagen. Ein langes Schweigen. Er öffnet die Augen nicht.
»Lochie?«, frage ich vorsichtig.
»Ja.« Er schreckt hoch, blickt mich an und blinzelt, als müsse er erst wieder zu sich kommen.
»Bleib einfach noch eine Weile hier, ich hol dir einen Kaffee und Schmerztabletten, okay?«
»Nein, nein …« Er packt mich am Handgelenk, um mich zurückzuhalten. »Es geht schon. Wenn ich
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