Forbidden
wir gestört werden, wenigstens eine kurze Zeit jeden Tag. Nach dem Zwischenfall heute Morgen wird er mich nicht mehr anrühren, solange die anderen im Haus sind, das weiß ich. Und sie sind eigentlich immer da, wenn wir auch da sind. Trotzdem weigere ich mich weiterhin, zu verstehen, warum ich nicht einmal neben ihm stehen oder seine Hand halten oder meinen Kopf gegen seine Schulter lehnen darf, wenn wir zu zweit im Zimmer sind. Er sagt, dass es das noch schlimmer macht, aber wie könnte etwas noch schlimmer sein, als ihn gar nicht berühren zu dürfen?
Am Nachmittag hole ich diesmal Tiffin und Willa von der Schule ab, weil Lochan zu lange Unterricht hat. Auf dem Nachhauseweg stürmen sie voraus wie immer, und bei jeder Kreuzung bleibt mir fast das Herz stehen. Zu Hause drücke ich jedem von ihnen erst mal einen Schokoriegel in die Hand. Dann gucke ichmir ihre Schulhefte durch, um einen Überblick über ihre Hausaufgaben und die Anmerkungen der Lehrer zu bekommen. Währenddessen streiten sie sich im Wohnzimmer um die Fernbedienung. Ich fülle die Waschmaschine, decke den Frühstückstisch ab und gehe dann hoch in Willas und Tiffins Zimmer, um dort aufzuräumen. Als ich das nächste Mal im Wohnzimmer nachgucke, haben sie genug vom Fernsehen, der Gameboy funktioniert nicht mehr richtig, und Tiffins Freunde aus der Nachbarschaft sind alle im Fußballverein. Sie fangen miteinander zu streiten an, deshalb schlage ich vor, eine Partie Cluedo zu spielen. Die lange Schulwoche scheint sie geschafft zu haben, denn sie sind beide sofort einverstanden, und wir breiten das Spiel auf dem Teppich im Wohnzimmer aus. Tiffin liegt bäuchlings auf dem Boden, das Kinn auf die Hand gestützt. Seine blonden Ponyfransen hängen ihm in die Augen. Willa hockt im Schneidersitz vor dem Sofa. Ich bemerke, dass sie sich ihre rote Strumpfhose am Knie aufgerissen hat, ein großes Pflaster ist zu erkennen.
»Was ist denn da passiert?«, frage ich.
»Ich bin hingefallen!«, verkündet sie. Ihre Augen leuchten auf, als sie von ihrem großen Drama zu erzählen beginnt. »Es war sehr, sehr schlimm. Es hat sehr wehgetan, und das Knie hat ganz viel geblutet. Das Blut ist sogar das Bein runtergelaufen, und die Schwester hat gesagt, ich muss ins Krankenhaus, und sie müssen das nähen!« Sie schielt zu Tiffin, ob er auch aufmerksam zuhört. »Ich hab fast gar nicht geheult. Nur ein bisschen, es war am Ende der Pause. Die Schwester hat gesagt, dass ich sehr tapfer war.«
»Du bist genäht worden?« Ich schaue sie erschrocken an.
»Nein, weil nach einer Weile kein Blut mehr gekommen ist, und da hat die Schwester gesagt, es muss doch nicht sein. Sie hatimmer wieder versucht, Mum anzurufen, und dabei hab ich ihr doch gesagt, dass es die falsche Nummer ist.«
»Die falsche Nummer?«
»Ich hab gesagt, sie soll dich oder Lochie anrufen, aber sie hat nicht zugehört. Ich hab ihr gesagt, dass ich die Nummern auswendig weiß. Aber sie hat euch nicht angerufen. Sie hat nur immer wieder bei Mum aufs Handy gesprochen. Und sie hat mich gefragt, ob nicht meine Oma oder mein Opa mich abholen könnten.«
»Zeig mal her! Tut es immer noch weh?«
»Nur ein bisschen. Nein – aua! Du sollst das Pflaster nicht abziehen, Maya! Die Schwester hat gesagt, ich soll es drauflassen!«
»Okay, okay«, sage ich schnell. »Aber das nächste Mal muss die Schwester mich oder Lochie anrufen! Hörst du, Willa? Sie muss mich anrufen!«
Willa nickt zerstreut. Sie hat ihr großes Drama des Tages erzählt und will jetzt die Spielfiguren aufstellen und anfangen. Nur Tiffin schaut mich plötzlich ernst an, die blauen Augen zusammengekniffen.
»Warum soll die Schule immer bei dir oder Lochan anrufen?«, fragt er. »Seid ihr heimlich unsere Eltern?«
»Nein, natürlich nicht, Tiffin. Wir sind einfach nur viel älter als du, das ist alles. Wie – wie kommst du denn darauf?« Seine Frage hat mich richtig erschreckt.
Tiffin schaut mich weiter mit ernstem Blick an, und ich warte ängstlich darauf, dass er noch einmal auf heute Morgen zu sprechen kommt.
»Weil Mum nie mehr da ist. Und am Wochenende auch fast nicht mehr. Sie hat jetzt bei Dave eine neue Familie. Sie wohnt jetzt dort und hat sogar neue Kinder.«
Ich starre ihn an, mir wird ganz traurig ums Herz. Aber ich muss es wenigstens versuchen. »Sie hat da keine neue Familie«, antworte ich. »Das sind die Kinder von Dave, nicht ihre Kinder, und sie wohnen auch nicht bei ihm. Wir sind ihre Kinder. Sie ist nur so oft bei Dave,
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