Forbidden
hat, gehe ich zu meinem Platz zurück.
In Englisch nehmen wir gerade Hamlet durch. Ich hab ihn schon mehrmals gelesen, deshalb geb ich mir gar nicht die Mühe, auch nur so zu tun, als würde ich mich auf den Unterricht konzentrieren. Seit dem unseligen Gespräch damals haben Miss Azley und ich außerdem so etwas wie einen Pakt miteinander: Sie ruft mich nicht auf, solange ich mich ab und zu freiwillig melde.Was ich normalerweise auch mache, wenn niemand sonst – und sei es noch so dumm – auf eine Frage antwortet, die sie gestellt hat. Dann helfe ich ihr aus. Aber heute bin ich nicht in der Stimmungdazu, die Doppelstunde zieht sich in der zweiten Hälfte unerträglich in die Länge, und der mir inzwischen schon vertraute pochende Schmerz in der Brust hat sich in ein anfallartiges Stechen verwandelt. Ich lasse den Stift fallen und starre aus dem Fenster. Der Wind fährt in eine Plastiktüte und bläst sie über den Pausenhof.
»… und die Krise, in die Hamlet stürzt, weckt bei ihm laut Sigmund Freud seinen unterdrückten Inzestwunsch.« Miss Azley schwenkt das Buch und geht mit großen Schritten vor der Klasse auf und ab. Sie bemüht sich, die Schüler wach zu halten. Ich spüre ihren Blick auf meinem Hinterkopf und drehe mich vom Fenster weg.
»Womit wir beim Ödipuskomplex angelangt sind, einem Begriff, den Freud Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts prägte.«
»Sie meinen, wenn ein Junge Sex mit seiner Mutter haben will?«, fragt einer aus der Klasse angewidert.
Miss Azley hat es geschafft, dass alle wieder ihrem Unterricht folgen. In den Bankreihen wird es laut.
»Aber das ist doch total krank! Warum sollte einer seine eigene Mutter ficken wollen?«
»Ja, so was soll vorkommen. Liest man manchmal in der Zeitung. Mütter, die’s mit ihren Söhnen treiben, Väter, die ihre Töchter und ihre Söhne ficken. Brüder und Schwestern, die’s miteinander treiben –«
»Ein anderes Vokabular, bitte!«, ruft Miss Azley.
»So ein Schwachsinn! Ich meine, wer kommt denn auf die Idee, die eigenen Eltern fick …, ’tschuldigung, also, es mit den eigenen Eltern machen zu wollen?«
»Das nennt man Inzest, Mann.«
»So nennt man das doch, wenn ein Bruder seine Schwester vergewaltigt, du Klugscheißer.«
»Nein, das ist, wenn –«
»Hey, hey! Wir kommen jetzt etwas vom Thema ab! Wir sind immer noch bei Hamlet. Und Freuds These ist auch nur eine These, viele Shakespeare-Forscher teilen diese Meinung nicht.« Miss Azley lehnt sich an ihr Pult, und auf einmal kreuzen sich unsere Blicke. »Lochan, schön, dass Sie sich wieder dem Unterricht zuwenden. Was halten Sie von Freuds These, dass Hamlets Mord an seinem Onkel sich mithilfe des Ödipuskomplexes erklären lässt?«
Ich starre sie an. Mich hat eine große Furcht gepackt. Um mich herum ist auf einmal Stille. Panik breitet sich in mir aus. Ich habe plötzlich Angst, und mir wird ganz schlecht bei dem Gedanken, dass Miss Azley mich absichtlich aufgerufen hat, um mit meiner Antwort die Diskussion zu eröffnen. Dass das kein Zufall ist. Wann hat sie mich das letzte Mal direkt etwas gefragt? Und warum kommt sie ausgerechnet jetzt auf Inzest zu sprechen? Ihr Blick bohrt sich in meine Augen, immer tiefer, bis in mein Gehirn. Sie lächelt nicht. Nein, das ist wohlüberlegt und geplant. Sie will wissen, wie ich reagiere … Plötzlich erinnere ich mich daran, dass ich nach Mayas Sturz vor der Krankenstation Miss Azley begegnet bin. Sie muss dabei gewesen sein, hat wahrscheinlich geholfen, Maya ins Krankenzimmer zu bringen, hat ihr vielleicht Fragen gestellt. Maya hatte sich den Schädel geprellt, bestimmt war es doch eine kleine Gehirnerschütterung. Welchen Grund hat Maya ihr für ihren Schwächeanfall genannt? Wie viel Zeit war bereits vergangen, bis ich damals gekommen bin? Was hat Maya in ihrem verwirrten Zustand womöglich alles gesagt?
Alle Augen in der Klasse sind auf mich gerichtet. Jeder dreht sich nach mir um und starrt mich an. Sie scheinen auch etwas zu wissen. Das ist alles eine einzige riesige Inszenierung.
»Lochan?« Miss Azley hat sich wieder aufgerichtet und kommt mit schnellen Schritten auf mich zu. Aus irgendeinem Grund kann ich mich nicht rühren. Die Zeit steht still. Die Zeit rast. Mein Tisch rattert unter mir, als würde der Boden von einem Erdbeben erschüttert. Meine Ohren füllen sich mit Wasser, und ich höre in meinem Kopf ein Summen, die elektrischen Leitungen in meinem Gehirn knistern, es gibt kleine Funken, wie bei einem
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