Forellenquintett
Boot glitt am Friedrichshafener Yachthafen vorbei. »Seid mal bitte alle still«, sagte der Mann am Ruder. Steuerbord sah man die Positionslichter eines großen, hell beleuchteten Schiffes, der Fähre von Romanshorn nach Friedrichshafen. Mit gedrosseltem Motor glitt das Schlauchboot an dem Friedrichshafener Uferpark und einem weiteren kleinen Hafen vorbei, der für Tretund Ausflugsboote angelegt war, backbord kam die Friedrichshafener Altstadt in Sicht. Das Boot beschleunigte und zog in einem großen Bogen um den Fährhafen und den seinen Eingang flankierenden Aussichtsturm vorbei, schwenkte dann aber wieder rasch nach backbord. Sobald es erneut in Ufernähe war, wurde das Tempo wieder gedrosselt.
»Und warum hätte ich das tun sollen?«, fragte Oerlinghoff. »Diesen Menschen erschießen...«
»Sie wollten Ihren Sohn schützen«, antwortete Tamar Wegenast. »Den jungen Mann, der sich Wolf Deutscher nennt. Zusammen mit Kevin Orschach hat er in Krakau die ehemalige Prostituierte Milena Kwiatkowski ermordet.«
»Was wissen Sie von meinem Sohn!«, sagte Oerlinghoff zornig. »Was wissen Sie überhaupt von Kindern - eine Frau wie Sie! Aber davon abgesehen und unterstellt, das wäre alles so, wie Sie es sich zusammenkleistern: Warum sollte ich dann diesen Orschach liquidieren?«
»Liquidieren«, wiederholte Tamar Wegenast, »das ist genau das richtige Wort: Sie haben ihn liquidiert. Mit einem einzigen gezielten Schuss, mitten in die Stirn, ebenso präzis platziert, wie Sie sich Ihre Plaketten beim Preis des Innenministeriums herausgeschossen haben. Und weil Sie eitel sind, haben Sie das auch zeigen müssen: dass Sie für so jemanden nur eine Kugel brauchen.«
»Eitel also auch noch, aber wie Sie meinen. Nur warum ich das getan haben soll, das können Sie mir offenbar nicht erklären...«
»Doch. Liquidiert haben Sie Orschach, weil ich Ihnen das Phantombild der polnischen Polizei gezeigt habe. Bei unserem ersten Gespräch war das. Sie wussten, dass dieser Mann früher oder später auffliegen würde. Und so haben Sie dafür gesorgt, dass er nicht mehr in der Lage sein würde, über seinen Mittäter zu reden. Sie haben Orschach getötet, damit Ihrem Sohn eine Chance bleibt, sich irgendwann doch noch aus dem Sumpf des Dr. Schatte zu lösen.«
Das Boot kam an der Mündung eines kleinen Flusses vorbei, backbord verschwanden die Lichter, und ein dichter Waldsaum zog sich am Ufer entlang.
»Niemand wird Ihnen glauben«, sagte Oerlinghoff. »Sie sind über eine Grenze gegangen, über die Sie nicht mehr zurück können. Sie gehören nicht mehr zur Polizei.«
»Dass ich eine Grenze überschritten habe, das ist wahr«, antwortete Tamar. »Aber fällt Ihnen nicht auf, dass wir das gemeinsam haben? Wir haben beide etwas getan, das unwiderruflich ist. Wir haben beide einen Menschen getötet.«
Das Boot verlangsamte seine Fahrt und suchte sich zwischen Weiden und dichtem Schilf einen Weg zum Ufer. Zwanzig oder dreißig Meter weiter fiel das Mondlicht auf ein Balkengerüst: eine aus Holzstämmen gezimmerte Aussichtsplattform.
»Näher ran geht es nicht«, sagte der Mann am Ruder. »Die letzten Meter müssen Sie durchs Wasser waten. Aber hinter dem Aussichtsplatz ist ein fester Weg.«
Oerlinghoff blieb sitzen. Er hatte nicht auf die Worte geachtet. Eine Hand berührte ihn. Er schrak hoch.
»Wir setzen Sie hier ab«, sagte Tamar. »Sie müssen jetzt das Boot verlassen.«
Oerlinghoff sah um sich. Zögernd setzte er sich auf den Bootsrand und ließ sich, mit den Händen abgestützt, in das Wasser hinabgleiten. Seine Füße versanken in feuchtem Moder, schließlich spürte er halbwegs festen Grund. Seine Hände lösten sich vom Boot, er hörte, wie die Drehzahl des Außenbordmotors anzog, im Mondlicht sah er noch einmal die Silhouette der Tamar Wegenast, die im Heck des Schlauchbootes saß, das nun direkten Kurs nach Süden nahm, als steuere es das Schweizer Ufer an.
Er drehte sich wieder um und stakste durch das kniehoch dümpelnde Wasser zu der Aussichtsplattform. In der linken Hand hielt er noch immer das Seil, das er sich gegriffen hatte, als er das Boot verließ, das heißt, nicht er hatte es sich gegriffen, sondern seine Hand hatte es festgehalten, warum auch immer.
Er ging mühsam, bei jedem Schritt musste er den Fuß aus dem morastigen und schlingernden Untergrund lösen. Plötzlich spürte er, dass er seinen rechten Schuh verloren hatte, der Schuh war im Morast stecken geblieben, der ungeschützte Fuß trat auf einen
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