Forellenquintett
um sich, so dass Dr. Hauerz erschrocken einen Schritt zurücktrat. »Da schauen Sie nur, ich kann gar nichts mehr sehen, wo sind Sie eigentlich, lieber Herr Doktor? Einen Schein brauche ich, das wissen Sie doch, einen Schein fürs Gericht...« Er legte die Hand vor das Auge. »Ah ja, da sind Sie ja!«
Dr. Hauerz hatte sich hinter seinen Schreibtisch zurückgezogen. »Ich schreibe Ihnen jetzt eine Überweisung an einen Ophthalmologen in Friedrichshafen, nur der kann beurteilen …«
»Hä?«, fragte Hirrlinger. »Wohin wollen Sie mich schicken?«
»Zu einem Augenarzt. Nur der kann beurteilen, ob eine Verletzung der Netzhaut oder des Sehnervs vorliegt.«
Er reichte ihm einen Überweisungsschein. Hirrlinger - noch immer die eine Hand vor dem Auge - versuchte den Schein mit der anderen zu greifen, das heißt, er fuchtelte dramatisch ins Leere, so dass er beinahe die Schreibtischlampe umgestoßen hätte.
»Jetzt ist aber gut«, sagte Dr. Hauerz, stand wieder auf, faltete den Schein zusammen und steckte ihn Hirrlinger in die Brusttasche. »Auf Wiedersehen!«
»Sie können mich doch nicht so wegschicken«, klagte Hirrlinger, »einen halbblinden Mann, ohne Schein, ohne Verband...«
»Gar nichts fehlt Ihnen«, sagte Dr. Hauerz grob, »und jetzt gehen Sie!«
»Jetzt versteh ich«, rief Hirrlinger, »wenn die Polizei Dreck am Stecken hat, da gucken alle weg, da stecken Sie doch alle unter einer Decke …« Er griff mit der freien Hand in seine Jacke und holte einen Zettel hervor. »Heute Morgen hab ich einen Brief bekommen, einen Brief für mich, können Sie mir den nicht vorlesen, wenigstens das …«
Widerstrebend nahm der Arzt das Stück Papier. Es waren nur zwei Zeilen in einer gut leserlichen Handschrift. Er las vor:
Was hast du gesehen, dass du von der Leiter gefallen bist?
Hirrlinger horchte auf. Plötzlich vergaß er, die Hand vor das Auge zu halten. »Das weiß ich doch nicht«, sagte er langsam, »ich war in der Klinik, ganz lang, da haben sie mir gesagt, dass ich von der Leiter gefallen bin, aber wer das war, das hat mir niemand gesagt, das haben sie alle vor mir verschwiegen, die ganzen Jahre schon, und wenn ich durch die Straßen gehe, höre ich sie alle tuscheln und wispern, da guckt, das ist der Hirrlinger, den haben wir von der Leiter gestoßen, und jetzt ist er nicht mehr richtig im Kopf und weiß nicht einmal, dass wir das gemacht haben...« Er machte einen Schritt auf den Arzt zu und streckte fordernd seine Hand aus. »Geben Sie mir den Brief zurück, lieber Herr Doktor, den werd ich auch dem Gericht zeigen, damit es sieht, was man mit mir gemacht hat.«
»Das ist vielleicht das Beste«, sagte Dr. Hauerz und gab ihm den Zettel. »Ja, gehen Sie zum Gericht, dort muss man Ihnen einen Anwalt besorgen.«
Hirrlinger nahm den Zettel und behielt ihn in der Hand, während er aus dem Behandlungsraum lief und durch das Wartezimmer nach draußen, wo die Sonne ihm ins Gesicht schien, dass ihm die Augen tatsächlich zu tränen begannen.
»Ja«, sagte er, »da wird man hinausgeschickt, blind, und kann sehen, wo man bleibt, aber wie soll der alte Hirrlinger das, wenn er nicht sehen kann …«
Er lief über einen Plattenweg, die eine Hand wieder vor dem Auge, mit der anderen, die den Zettel hielt, nach Hindernissen tastend. Auf einer Radelrutsch kam ihm ein Kind entgegen.
»Da ist ein Kind«, sagte Hirrlinger, »ein nettes Kind, Vorsicht, du nettes Kind mit deiner Radelrutsch, ich seh fast nichts, aber der Arzt, weißt du, der will mir nicht helfen, du bist nicht vielleicht das Kind vom Arzt?« Er streckte die Hand aus. »Du hast so hübsches Haar, das glänzt in der Sonne …«
Eine Frau kam um die Hausecke, verharrte erschrocken einen Augenblick, und stürzte sich dann wild schreiend auf das Kind. »Lassen Sie Ihre Hände von meinem Kind!«
Hirrlinger schrak zurück. »Ich hab doch nichts getan, das Kind da ist zu mir hergefahren, ich hab noch nie einem Kind was getan.«
Die Frau begann um Hilfe zu rufen, aus der Praxis stürzte Dr. Hauerz und packte Hirrlinger an der Jacke. Ein Polizist rannte um die Hausecke und griff, noch im Rennen, nach seiner Pistole. Nun schrie auch Hirrlinger, gellend, und hörte nicht mehr auf damit.
L inda Hoflach hatte sich in ein schwarzes Kostüm gezwängt, das an den Hüften merklich spannte. Sie stand in ihrer Wohnküche und brühte von Hand einen Filterkaffee auf. Auf dem reich gedeckten Esstisch waren drei Frühstücksgedecke bereitgestellt. Zu dem
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