Forellenquintett
vielleicht noch mit besonderer Schwere der Schuld, so dass einer wie Sie als Vierzigjähriger wieder herauskommt, kaputt, krank und womöglich mit dem Virus infiziert, den kann sich einer dort schneller einfangen, als er denkt, und ohne dass ihn einer vorher groß fragt …«
L isa Ruoff war die nächste noch lebende Anverwandte, und so hatte man sie in ihrem Rollstuhl an das Kopfende des langen Tisches geschoben, der im Nebenzimmer des Seehofs für den Leichenschmaus zusammengestellt worden war. Pfarrer Duttweiler hatte neben ihr Platz genommen und zerteilte ihr Felchenfilet, er hatte Übung darin und ließ es auch zu, dass Lisa Ruoff ihn immer wieder tätschelte, das heißt, mit der einen Hand, die sie noch bewegen konnte, schlug sie ihm - wenn er sich dessen am wenigsten versah - auf den Arm und sagte dann: »So eine Leich, und so eine schöne Rede, Herr Pfarrer, wer redet bei mir, wenn ich tot bin?«
Und jedes Mal hatte er freundlich und geduldig geantwortet:
»Ich glaube, liebe Frau Ruoff, so bald will unser Herrgott Sie noch nicht zu sich rufen.« Und dafür, so hatte er bei sich gedacht, wird der lb. Gott auch seine Gründe haben.
Marlen, in einem Schwarzseidenen aus den fünfziger Jahren, hatte sich am unteren Ende der Tafel versteckt, zwischen einer Weißhaarigen aus dem Stift und einem schwerhörigen Hopfenbauern aus der Tettnanger Gegend, bei dem die verblichene Olga Stubbinger früher einmal als Betriebshelferin gearbeitet und offenbar einmal ein Wespennest ausgeräumt hatte. Marlen war abgelenkt, aus vielen Gründen, und von draußen drang das Wummern eines Ghetto-Blasters herein, den irgendwelche jungen Männer unter den Platanen vor dem Trachtengeschäft Kilgus laufen ließen. Zu spät hatte sie gesehen, dass schräg gegenüber von ihr der Dorfquerulant Hirrlinger saß, er trug eine Augenklappe, und sein eines verbliebenes Auge irrte streitsüchtig und tückisch über die Trauergemeinde und immer öfters auch zu ihr her.
»Du bist doch die Marlen«, sagte er schließlich und deutete mit dem Finger über den Tisch auf sie. »Die Polizistin … das da« - der Finger zeigte jetzt auf die Augenklappe - »das da haben deine Kollegen gemacht, schöne Kollegen hast du da, das muss ich schon sagen, einem alten Mann das Auge ausschlagen.«
»Ja, Herr Hirrlinger«, antwortete sie mit leiser Stimme. »Das tut mir sehr leid.«
Es hatte keinen Sinn, mehr zu sagen. Es hatte auch keinen Sinn, sich Gedanken zu machen, über was auch immer. Gestern Abend noch war ihr Foto im Fernsehen gekommen, aber niemand hatte sie darauf angesprochen. Vielleicht hatten die Leute keine Zeit für die Landesschau, vielleicht war das, was dort kam, nur Film für sie und hatte mit dem wirklichen Leben nichts zu tun, vielleicht auch war eine Leich’ eben eine Leich’, und da gehörte es sich, dass man über die oder den Verstorbenen sprach und über nichts anderes...
»Einen schönen Garten hat sie gehabt«, sagte der Hirrlinger, »das ist wahr, und wisst ihr, wer ihr die Bäume geschnitten hat? Der Hirrlinger war das, und das ist auch wahr...«
»Und dann«, sagte die Weißhaarige, »dann bist du von der Leiter gefallen, und zwar in der Olga ihrem Garten, und das ist auch wahr.«
»Ja, mit der Leiter«, sagte der Hopfenbauer, »da ist sie rauf, und keine Einzige hat sie gestochen...”
»Und du weißt nicht, was du redest«, widersprach Hirrlinger. »Ich bin nicht gefallen. Die haben mich gestoßen.«
Marlen schob den Stuhl zurück und stand auf und nickte kurz, um sich für einen Augenblick zu entschuldigen, und ging hinaus. Draußen hallte der ganze Marktplatz von dem Gewummer des Recorders wider, den die jungen Männer laufen ließen, die vor dem Laden des Trachten-Kilgus Dosenbier tranken. Weiter rechts, vor dem Rathaus, stand ein Einsatzwagen der Bereitschaftspolizei, es waren junge Beamte aus Biberach. Sie ging zum Einsatzführer, es war ein Beamter, den sie nicht kannte.
»Können Sie den Leuten da drüben nicht sagen, dass sie etwas weniger Lärm machen sollen? Da drin ist eine Trauergemeinde.«
Der Einsatzführer sah sie groß an. »Außer Ihnen hat sich aber noch niemand beschwert... Wissen Sie, wir sind nur zur Beobachtung hier.«
Marlen machte auf dem Absatz kehrt und ging selbst zu der Gruppe. Es waren fünf oder sechs junge Leute, die meisten glatzköpfig, und die Musik, die sie hörten, war eher ein Sprechgesang und handelte von Rasse, Hass und Deutschsein, soviel sie verstand.
»Entschuldigen
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