Forellenquintett
nicht, dass er noch einmal herkommen wird. Wo ist Frau Jehle?«
»Oben.«
Sie fand Elisabeth Jehle in der Küche, wo sie am Tisch saß, Äpfel schälte und sie in kleine Stücke schnitt. Auf der Arbeitsplatte neben der Spüle drehte sich langsam eine elektrische Trockenplatte.
Sie trockne Apfelschnitze, erklärte Elisabeth Jehle und hielt der Besucherin einen Teller davon hin. »Probieren Sie nur! Ich find die vom Boskop besonders gut.«
»Danke.« Tamar nahm zwei Schnitze und behielt sie, etwas verlegen, in der Hand. »Er wird nicht zurückkommen«, sagte sie.
»Vielleicht nicht, vielleicht doch«, antwortete Elisabeth Jehle und nahm den nächsten Apfel aus dem großen Korb, der auf einem Hocker neben ihr stand. »Die Kinder müssen ihre eigenen Wege gehen. Das hab ich ja lang genug gelernt.«
»Frau Jehle - er ist nicht Ihr Sohn.«
»Meinen Sie? Aber haben Sie nicht gehört, wie schön er gespielt hat?«
Die Ladenklingel schlug an, dann kam jemand mit eiligen Schritten die Treppe hoch, und in der Tür zur Küche erschien der magere Mensch, den Tamar beim Skatspiel im Alten Schulhaus gesehen hatte. Er trug einen mit einer Plastikfolie geschützten neuen dunkelgrünen Anzug über dem Arm. Es war eine Art Trachtenanzug mit einem Eichenmuster am Revers.
»Der Anzug für Bastian, für heute Abend«, sagte der Mann, und auf seinen Wangen zeichneten sich scharf umrandete hektische Flecken ab.
Elisabeth Jehle stand auf und wischte sich die Hände an ihrer Küchenschürze. »Das hast du aber schön gemacht, Kilgus«, lobte sie. »Das Plastik nimmst du aber gleich wieder mit …«
Der Trachten-Kilgus nahm die Schutzhülle ab und reichte ihr den Anzug. »Ich bring ihn nur auf sein Zimmer.«
Für einen Augenblick waren Tamar und der Mann allein. Sie nickte ihm zu, und er erwiderte den Gruß, krampfhaft bemüht, die Schlinge zu übersehen, in der sie noch immer ihren Arm trug.
»Sie haben den Laden heute schon geschlossen?«, fragte sie.
»Ja, hab ich«, sagte er. »Wissen Sie, ich will nichts mit Politik zu tun haben, aber diese Leute, schrecklich...«
Der Mann war nervös. Warum? Die Rollläden hatte er doch schon heruntergelassen …
»Sie hätten die Reichskriegsflagge ins Schaufenster hängen sollen«, bemerkte Tamar. Aus irgendeinem Grund hatte sie einen besonderen Widerwillen gegen Opportunisten gefasst, auch dann, wenn es glücklose waren.
»Wie meinen …?«
»Haben Sie eigentlich auch einen anonymen Brief bekommen?«
Die hektischen Flecken verstärkten sich. »Ich weiß wirklich nicht, wovon Sie reden und was Sie überhaupt von mir wollen...« Er holte aus seinem Jackett einen weißen Umschlag und legte ihn auf den Küchentisch. »Sagen Sie Frau Jehle, das hier wäre die Rechnung und dass ich jetzt gleich weiter muss...« Er deutete eine Verbeugung an und lief aus der Küche und die Treppe hinunter.
Elisabeth Jehle kam zurück. »Wissen Sie, wir wollen doch heute mit ihm zum Eröffnungskonzert vom Aeschenhorner Herbst - aber schauen Sie nicht so, ich weiß, dass Sie gesagt haben, er kommt nicht, aber was wissen wir Menschen denn wirklich?«
»Da haben Sie Recht«, antwortete Tamar und fragte sie, ob sie sich eine von Bastians Kassetten ausleihen dürfe. »Ich möchte Sie mir kopieren.«
»Aber gerne«, sagte Elisabeth Jehle, und ihr Gesicht rötete sich, »er spielt ja auch wirklich wunderbar.« Sie ging ihr voran in das Zimmer mit dem Flügel. Neben dem Flügel stand eine Bodenvase mit Herbstblumen.
Das ist und sieht aus wie das Zimmer eines Toten, dachte Tamar. Warum redet diese Frau dann so?
Die Kassette war noch im Recorder. Tamar holte sie heraus und steckte sie in ihre Hülle. »Morgen bekommen Sie sie zurück«, versicherte sie. »Wo ist eigentlich Ihr Mann? Ich hätte noch gern mit ihm gesprochen.«
»Unten in seinem Büro, aber Sie dürfen ihn ruhig stören. Und mit der Kassette lassen Sie sich bitte Zeit.«
Tamar bedankte sich und ging.
M artin Jehle saß an seinem Schreibtisch, und die Schreibunterlage aus dunkelrotem Leder war leer. Auf Tamars Klopfen hin hatte er zwar »Herein!« gerufen, aber er schaute nicht zur Tür, sondern zum Fenster hinaus, vielleicht auf den kleinen Garten mit dem Vogelbeerbaum, dessen Früchte rot leuchteten.
»Treten Sie nur ein und nehmen Sie Platz!«, sagte er und drehte seinen Schreibtischsessel zu ihr hin.
Tamar setzte sich auf einen der beiden Holzstühle, die vor dem Schreibtisch standen.
»Sie waren schon oben bei meiner Frau?«,
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