Forellenquintett
fuhr Jehle fort. »Ich nehme an, Sie werden ihr gesagt haben, dass dieser junge Mann nicht mehr hierher zurückkommt. Und dass er nicht unser Sohn ist.«
Tamar hob die Augenbrauen. »Woher wissen Sie...?«
Er zuckte mit den Achseln. »Dass er nicht unser Sohn ist?«, ergänzte er die Frage. »Dieser Mann kann nicht unser Sohn sein. Unser Sohn ist seit siebzehn Jahren tot. Sie haben ihn in den Fluss getrieben und ihn ertränkt, wie man das früher mit neugeborenen Katzen gemacht hat.«
»Und wer sind die Leute, die das getan haben?«
»Das … das weiß ich nicht«, antwortete Jehle. »Ich hatte gehofft, Sie würden es herausfinden. Und da...«
»Und da haben Sie was?«
Jehle schüttelte den Kopf. »Nichts. Es ist ja auch nichts herausgekommen. Sie hatten ja anderes zu tun.« Er hob entschuldigend die Hand. »Kein Vorwurf. Es war ja nicht Ihre Aufgabe. Es wäre die Aufgabe von Walliser gewesen.«
Tamar überlegte. Jehles Büro war ein winziges, enges, bedrückendes Kabuff. Sie wollte hier nicht bleiben. Seit wie vielen Jahren saß dieser Mann da und wartete und brütete?
»Aber Ihrer Frau haben Sie das nie gesagt?«
»Dass Bastian tot ist? Nein, das habe ich ihr nie gesagt.« Er lächelte oder genauer: Er versuchte ein Lächeln. »Haben Sie es versucht? Mich hätte sie gar nicht ausreden lassen.«
»Und trotzdem sind Sie nach Berlin mitgefahren.«
»Warum wundert Sie das?«
»Es wundert mich nicht«, antwortete Tamar. »Aber Sie sind nicht einfach bloß mitgefahren. Sie hatten einen Plan, oder Sie haben ihn dort gefasst. Falls Ihre Frau diesen jungen Mann, diesen Ansgar Kulitz - so heißt er mit richtigem Namen - als ihren Sohn Bastian anerkennen sollte, wie sie es dann ja auch getan hat, dann sollte dieser angebliche Bastian wie ein Gespenst über diesen Ort kommen. Wer hat alles diese Briefe bekommen? Alle Leute, die am Tod Ihres Sohnes schuld sein könnten?«
»Schuld tragen viele«, antwortete Jehle. »Und vielerlei Art von Schuld. Aber Sie sprechen von Briefen. Hat jemand Briefe geschrieben? Anonyme Briefe vielleicht? Das kann die Polizei doch herausfinden, wer das getan hat. Da gibt es doch graphologische Gutachter, nicht wahr? Da sollen die Leute doch zum alten Jehle kommen und die Briefe vorzeigen und ihm ins Gesicht sagen, was sie daran stört und was daran falsch ist, dieses Mädchen zum Beispiel, das hier erschienen ist, ein paar Tage danach, und mir ins Gesicht gelogen hat, sie hätte noch Noten zu bekommen von Bastian...« Er zog die Schreibtischschublade auf. »Bitte, bedienen Sie sich. Schreibblock, Füller, Kugelschreiber. Sicher alles wichtige Beweismittel, ich warte darauf, dass die Leute mich verklagen, solange, bis die Wahrheit herauskommt, bis einer dieser Kläger die Wahrheit gestehen wird...«
»Lassen Sie es«, sagte Tamar. »Ich bin nicht mehr bei der Polizei.«
R amiz hatte sich verabschiedet und war zurück nach Frankfurt gefahren, denn er hatte seinen Job getan, und Hoflach hatte beschlossen, dass er noch ein paar Autos waschen sollte. So steuerte Marlen jetzt den weißen Pick-up über die Uferstraße, die zur Seeseite hin von Villen mit hohen, spitzgiebligen Dächern gesäumt wurde.
Eines der Häuser machte eine Ausnahme, es war ein von alten Bäumen umgebener Bungalow aus Sichtbeton mit Panoramafenstern. Ein hoher Zaun aus Edelstahl umgab das Grundstück, das Tor war geöffnet, und Marlen Ruoff fuhr die Einfahrt hoch, die vor dem Bungalow nach links zu einer Doppelgarage führte. Vor der Garage waren ein BMW mit Sportfelgen und dahinter ein älterer tiefblauer Jaguar geparkt. Zwei Männer, die bei dem Jaguar standen, blickten auf und sahen zu ihnen her, der eine von ihnen trug einen dunklen Samtanzug und hatte lange weiße Haare, die bis auf die Schultern fielen.
»Ach! Sie sind doch von der Polizei und waren dabei«, rief Windisch und ging auf Marlen zu. »Ich habe gerade den Herrn vom TÜV bei mir, erzählen Sie ihm nur, was Sie von dieser unglaublichen Geschichte wissen!«
Die Kommissarin war inzwischen ebenfalls ausgestiegen und ihrer Kollegin zu dem Wagen gefolgt. Der zweite Mann, der dort stehen geblieben war, hatte einen Schnauzbart und trug ein kariertes Jackett mit Lederflicken an den Ellbogen.
»Ja, das ist wirklich jammerschade«, sagte der Mann und wies auf die aufgeschrammten und irgendwie zerknüllt wirkenden Kotflügel. »Die Karosseriebleche sind angegriffen, das kann man nicht einfach ausbessern, und Ersatzteile... also Ersatzteile, die
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