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Forellenquintett

Titel: Forellenquintett Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Ritzel
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von Koketterie allein, sondern auch von Scham darüber. »Solches Zeug hat er immer dann aufgelegt, wenn er einer an die Wäsche wollte.«
     
    E rnst sei das Leben, heiter die Kunst, hatte Bürgermeister Innertshofer gesagt, das gelte umso mehr in diesen Tagen, »da politische Wirren auch unseren schönen friedlichen Ort heimsuchen …« Dann hatte sich der Vorhang geöffnet, die Trachtenkapelle spielte ein Medley aus Operetten-Melodien und noch eine erste Zugabe und eine zweite, bis sie die Bühne endlich räumte und Platz machte für Professor Carl-Maria Windisch, der - im nachtblauen Smoking - einen neuen Stern am strahlenden Himmel des Aeschenhorner Kulturlebens ankündigte, worauf ein Sechsjähriger - auch er in einen Smoking gesteckt - auf die Bühne lief, einen riesigen Plüschbär in den Armen. Er gab Windisch den Bären zu halten, der ihn nahm und so verdutzt ins Publikum schaute, dass jeder begriff, dass Professor Windisch jetzt verdutzt war, während der Sechsjährige auf einen hohen Klavierhocker kletterte, der vor dem bereits geöffneten Flügel stand, und ein »Albumblatt für Elise« zu spielen begann …
    »Wenn das so weitergeht, können wir da doch nicht dazwischengehen«, flüsterte Audrey. Sie stand im Backstage, neben einer Tür, die ins Tonstudio führte. »Das dürfen wir den Kindern nicht antun.«
    »Wenn das alles ist, was diesen Kindern angetan wird …«, sagte Elke, öffnete ihre Handtasche und holte einen Flachmann heraus. Tamar sah auf, die Handtasche hing aufgeklappt an Elkes Arm, und während Elke den Flachmann aufschraubte, griff Tamar in die Tasche und holte ein ledernes Adressbuch heraus.
    Elke ließ Flachmann und Verschlusskappe sinken. »Was tust du da?«
    Tamar warf einen Blick in das Adressbuch. Die Handschrift war fahrig und sprengte die engen Zeilen an, die für die Eintragungen vorgesehen waren.
    »Schon gut«, sagte Tamar. »Stehlen tu ich auch nichts.« Sie steckte das Adressbuch in die Tasche zurück und vertiefte sich wieder in das Programm. »Jetzt kommt der Liederchor, dann angeblich eine Altistin mit dem Lied: Weine nur nicht … « Sie sah hoch. Ein Mädchen in einem kleinen Schwarzen, das für ihre Beine ein wenig zu kurz geraten war, kam vorbei und warf einen neugierigen Blick auf Tamar und ging rasch weiter. »Okay.« Tamar öffnete die Tür zum Tonstudio, der Toningenieur, ein nicht mehr ganz junger Mann mit einem Zopf, sah zornig hoch und um sich, denn plötzlich war er von vier Frauen umringt.
    Tamar hob nur die Hand und legte den Zeigefinger vor die Lippen, und Marlen hielt ihm schweigend eine Kassette hin. Der Toningenieur schüttelte verständnislos den Kopf, aber dann öffnete Marlen ihren Lederblouson, so dass man die Pistole sah, die ihr im Hosenbund steckte. Draußen setzte der Liederchor ein und sang: »In einem Bächlein helle …«
     
     
     
    D er Liederchor hatte die Bühne verlassen, und Professor Carl-Maria Windisch war wieder ans Mikrophon getreten. »Ein wunderbares Lied, und ein sehr bedenkenswertes dazu«, sagte er, »aber auch ein wunderbarer Chor, der gleichermaßen die unvergleichliche Anmut der kleinen Forelle und die Trauer über ihr Schicksal zum Klingen gebracht hat. Doch jetzt darf ich Ihnen einen weiteren neuen Stern...«
    Eine große schlanke Frau in Jeans und einem ausgebeulten Jackett kam über die Treppe herab auf die Bühne, ging zu dem Flügel und nahm das zweite Mikrophon, das dort aufgebaut war. Sie nahm es mit der linken Hand, denn den rechten Arm trug sie in einer schwarzen Schlinge.
    »Nein, Herr Professor Windisch, Sie dürfen jetzt nicht«, sagte sie, und im vollbesetzten Saal kam spannungsvolle Heiterkeit auf. Windisch versuchte etwas zu sagen, aber es kam kein Ton.
    »Jetzt nämlich werden wir Ihnen Herrn Professor Windisch selbst vorstellen und sein ganz besonderes Wirken und Treiben in dieser Gemeinde, und weil dies ein musikalischer Abend ist und weil der Liederchor wirklich sehr schön gesungen hat, greifen wir gerne das von ihm vorgegebene Leitmotiv auf und führen es weiter, wie Sie gleich hören werden.« Sie hob die Stimme. »Und hier unsere Überraschung für Sie: Es spielt Carl-Maria Windisch!«
    Im Saal rauschte Beifall auf, dann drangen aus den Lautsprechern das Knistern und Rauschen und die ersten Akkorde der Kassette, die Tamar aus Bastian Jehles Zimmer mitgebracht hatte.
    Windisch lief auf die Frau zu, aber die hob nur die Hand und schickte ihn zurück. Er wandte sich um und ging noch ein paar Schritte,

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