Forellenquintett
Seite ab, vor dem kleinen blauen Haus der Kartenlegerin. »Ich warte hier«, sagte sie dann.
»Komm nur mit.«
I ch wäre sehr böse gewesen, wenn Sie einfach so gegangen wären«, sagte Walburga Kreitmeyer und zeigte ihr strahlendes Gebiss. »Kaffee?«
»Eigentlich nicht«, sagte Tamar. »Ich wollte nur wissen, ob die Karten mir sagen können, wer vor dem Schulhaus gewartet hat.«
Sie saßen zu dritt um den runden Tisch der Kartenlegerin, und Tamar hatte von ihrem Platz aus Sicht auf das Alte Schulhaus. Walburga Kreitmeyer zog ein abgegriffenes Spiel Karten aus ihrem Umhang und betrachtete sie zögernd, dann ihre beiden Besucherinnen. »Ich weiß aber nicht, ob meine Karten wollen.«
»Die Karten müssen tun, was die Königin will«, antwortete Tamar. »In Alice im Wunderland ist das so.«
»Vielleicht. Wirklich keinen Kaffee?«
»Danke, nein«, wiederholte Tamar. »Man sieht von hier aus das Alte Schulhaus sehr gut. Es ist eine Perspektive wie bei einem umgekehrten Fernrohr. Ich glaube, Sie sind dem Mann, der dort gelebt hat, sehr nah gewesen und sehr fern.«
»Wie das eben so geht, wenn man das Fernglas umdreht«, antwortete die Kartenkönigin. »Erst ist einer ganz nah und ganz groß, und dann sehr fern und unglaublich klein. Brauchen Sie wirklich die Hilfe meiner Karten?« Wieder schaute sie auf, und ihr Blick streifte Marlen.
»Nur noch ein Versuch«, sagte Tamar. »Ist Ihren Karten nicht vielleicht doch der Junge aufgefallen, der eines Tages ins Schulhaus kommt und geht und noch einmal kommt und wieder ganz schnell geht, als verfolge ihn etwas?«
»Das ist eine merkwürdige Frage«, sagte Walburga Kreitmeyer, und ihre Hände begannen - fast wie von selbst -, die Karten durchzumischen und sie auf dem Tisch auszubreiten, mit dem Bild nach unten. Sie deckte eine Karte auf, den Kreuz-König, und eine zweite, die Herz-Dame, es folgten die Kreuz-Sieben, der Herz-Bube und in rascher Folge die Pik-Zwei und Damen von Pik und Karo. Sie betrachtete die aufgedeckten Karten und schüttelte den Kopf. »Ich sagte Ihnen doch, manchmal wollen meine Karten nicht...«
»Tun Sie ihnen nicht Unrecht«, antwortete Tamar. »Mir sagen sie etwas.«
U nd was haben dir die Karten gesagt?« Marlens Renault näherte sich der Stadtgrenze von Friedrichshafen. Wieder blickte sie in den Rückspiegel. Kein Wagen war ihnen gefolgt.
»Was ich da in der Hand gehabt hätte, wäre ein Blatt mit vielen Bildern gewesen, ein buntes Bilderblatt eben«, antwortete Tamar. »Und das hat mich an etwas erinnert, was du mir einmal gesagt hast: Der dressierte kleine Affe, der für seinen Vater die Illustrierten ausfahren muss, der hat dir leid getan. Nun weiß ich nicht, ob jemand, der nachts Steinchen an ein bestimmtes Fenster wirft, nur Mitleid empfunden hat und nichts sonst...«
Marlen antwortete nicht.
»Aber es stimmt schon«, fuhr Tamar fort, »der Junge hat ziemlich viel Stress gehabt. Und so ist es eben einmal passiert, dass er die Tasche mit den Illustrierten bei Windisch nach dem Klavierunterricht hat liegen lassen.«
»Aber warum musste er sie überhaupt mitnehmen?«
»Weil er sie nicht beim Fahrrad lassen konnte. Die Illustrierten wären geklaut worden.«
»Also gut. Er ist zurück, zurück ins Schulhaus«, fasste Marlen zusammen. »Und dann?«
»Dann lief die Kassette«, antwortete Tamar. »Bastian wird gewusst haben, dass er jetzt nicht stören darf. Aber er brauchte die Tasche. Die Illustrierten mussten ausgefahren werden. Also hat er vorsichtig ins Unterrichtszimmer geschaut, aber da war niemand. Nichts war da, außer dem Recorder, von dem das Klavierspiel dudelte. Er ist - ich stelle mir vor: auf Zehenspitzen - in das Zimmer gegangen, hat sich seine Tasche gegriffen, und ist dann furchtbar erschrocken, weil das Band plötzlich zu Ende war und man nur noch das Keuchen des Herrn Professor Windisch gehört hat, das aus dem Nebenzimmer kam, oder was da sonst noch zu hören war.«
»Du denkst dir das aus?«
»Wenn du meinst«, sagte Tamar. »Aber dass der kleine Bastian die Kassette eingesteckt hat - das denke ich mir nicht aus, das muss er getan haben, denn wir haben die Kassette bei ihm gefunden. Und am nächsten oder übernächsten Tag setzt er sich - vielleicht bei der Heimfahrt von der Schule - neben die Mitschülerin, die nach ihm bei Windisch Klavierunterricht gehabt hat, und sagt zu ihr, ich hab dich gestern oder vorgestern gehört, beim Windisch, da hast du aber schön gespielt, und vielleicht zeigt er
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