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Forellenquintett

Titel: Forellenquintett Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Ritzel
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dann rauschte erneut Beifall auf, er verbeugte sich und blieb mit hochrotem Gesicht stehen. Noch immer lief das Tonband, doch das Rauschen und Knistern wurde immer stärker, im Publikum kam Unruhe auf, und Innertshofer begann mit einem dicken Mann zu flüstern, der neben ihm saß.
    Tamar Wegenast hatte die Reaktionen im Saal beobachtet. Jetzt nahm sie wieder das Mikrophon auf.
    »Es ist genug«, sagte sie, und die Musik brach ab. »Wir bitten Sie, die Wiedergabequalität dieser Aufnahme zu entschuldigen. Es ist eine sozusagen historische Aufnahme, ein Dokument also, und es wird einige unter unseren Zuhörern geben, die seine Bedeutung kennen …« Sie machte eine kurze Pause und wandte sich Windisch zu. »Oder sollte ich, verehrter Herr Professor Windisch, nicht präziser sagen: Einige unter unseren Zuhörerinnen kennen seine Bedeutung, kennen sie vielleicht nur zu gut, auch wenn in diesem schönen Ort nie darüber gesprochen wurde?«
    Im Zuhörerraum war Bürgermeister Innertshofer aufgestanden, andere Zuhörer folgten seinem Beispiel, erste Buh-Rufe waren zu hören. Windisch, der während der Einspielung stehen geblieben war, drehte sich um und lief zur Seitentreppe, die von der Bühne hinab in den Zuschauerraum führte, und rannte aus dem Saal.
    Fast alle Zuhörer waren aufgestanden oder aufgesprungen, viele reckten die Hälse, um nach ihm zu sehen.
    Nur eine einzelne Frau, die Hände über der Krücke ihres Stocks gelegt, war in der ersten Reihe sitzen geblieben.

Donnerstag, 13. Oktober
    D eutscher?«, fragte der Mann vom Regionalfernsehen, »also wie deutsch, bloß noch mehr?«
    »Stört Sie was daran?«, gab der junge Mann zurück, der sich im Foyer des Hotel Seehof einer improvisierten Pressekonferenz gestellt hatte. Er trug eine rotweiße Armbinde mit der Aufschrift Stab . »Darf man in dieser Systemrepublik so nicht heißen?«
    »Aber gerne dürfen Sie das«, meinte der Fernsehmann, »nur hätt ich gerne den Herrn Dr. Schatte gesprochen.«
    »Ich bin beauftragt, Ihnen Auskünfte zu erteilen«, antwortete Deutscher. »Einen anderen Gesprächspartner können Sie sich nicht backen.«
    »Wenn das so ist«, mischte sich ein zweiter Journalist ein, »dann erklären Sie uns doch, warum Ihre Gruppe überall eine Spur von Gewalt hinterlässt?«
    »Wir sind keine Gruppe«, antwortete Deutscher, »wir sind eine Bewegung. Und wenn Sie von Gewalt sprechen - wir sind es, die zwei Tote zu betrauern haben. Wäre ich Moslem, hätten Sie es hinzunehmen, dass ich von Märtyrern spreche.«
    »Und wie sollten sie Ihrer Ansicht nach genannt werden?«
    »Es sind Kriegsgefallene.«
    »Sie führen also einen Krieg? Gegen wen? Gegen den Staat?«
    »Der Krieg wird gegen uns geführt«, antwortete Deutscher. »Gegen Deutschland. Und das seit hundert Jahren.« Er blickte auf, hinüber zu der Hotelrezeption. »Aber da Sie von Gewalt angefangen haben - sehen Sie die Frau da drüben an der Rezeption? Die hat zwei unserer Männer erschossen.« Plötzlich lächelte er. »Ein Wort von mir, und unsere Leute hängen diese Frau binnen fünf Minuten an dem schönen Kirchturm hier im Ort auf, und keiner der uniformierten Bedenkenträger da draußen würde sie daran hindern können. Aber hören Sie dieses Wort von mir?«
    »Warum nicht?«
    Er verzog das Gesicht zu einer abschätzigen Grimasse. »Wir wollen doch diesen schönen Kirchturm nicht verhunzen. Außerdem geht Hängen viel zu schnell.«
     
     
     
    J ulia von der Rezeption brachte Tamars Reisetasche und wollte sie auf den Tresen legen.
    »Vorsicht!«, sagte Tamar, sah sich ihre Tasche an, sehr genau, und tastete die Verschlussklappen ab. »In Ordnung«, sagte sie schließlich und bezahlte ihre Rechnung.
    »Was war mit der Tasche?«, fragte Marlen, als sie zusammen das Hotel verließen.
    »Nichts. Ich hab nur so meine kleinen Sicherungen«, antwortete Tamar. »Für den Fall, dass mir jemand einen Totenkopf reinlegt oder sonst etwas.«
    Auf dem Marktplatz, vor dem Geschäft des Trachten-Kilgus, lagerte noch immer die Gruppe. Inzwischen war sie auf etwa dreißig Männer angewachsen, und zwischen zwei Platanen hing eine Reichskriegsflagge. Marlen sah sich um und schloss ihren Wagen auf. Die beiden Frauen stiegen ein, und Marlen fuhr los.
    »Wie lange willst du so weiterleben?«, fragte sie, als sie den Marktplatz verließen, und warf einen Blick in den Rückspiegel.
    »Solange es geht«, antwortete Tamar.
    Vor ihnen kam das Alte Schulhaus in Sicht. Marlen stellte den Wagen auf der linken

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