Forellenquintett
Seite und fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund, wobei er den kleinen Finger abgespreizt hielt. »Aber nun zum Geschäft. Sie sind aus dem kühlen Grund zu mir gekommen, weil sie mich überreden wollen, Ihnen freie Hand in Aeschenhorn zu lassen. Sie werden versuchen, Kontakt zu diesem angeblichen Bastian Jehle aufzunehmen, und vor allem wollen Sie hier sein, falls in Aeschenhorn die Leute auftauchen, die diesen verlorenen Sohn Ihrer Ansicht nach in Krakau an ihre Brust genommen haben. Ist es nicht so?«
»Wenn Sie meinen.«
»Ist es so?« Plötzlich war seine Stimme leise geworden.
»Ja.«
»Schön«, antwortete er. »Dann erklären Sie mir bitte, in welcher Rolle Sie dort auftreten wollen.«
»Ich habe nicht vor, Theater zu spielen.«
»Das werden Sie aber«, widersprach Oerlinghoff. »Sie können dort keine Fotos von abgeschlagenen Köpfen herumzeigen, und Sie können den Leuten auch nicht erzählen, der angebliche Bastian Jehle sei leider ein Herr Kulitz aus Offenbach. Das heißt, tun können Sie es schon. Nur erreichen werden Sie damit nichts.«
»Sagen Sie«, fragte Tamar zögernd, als wolle sie Zeit gewinnen, »als dieses Kind vor siebzehn Jahren verschwunden ist - hat es da irgendeinen Verdacht gegeben?«
»Das müssen Sie Walliser fragen. Aber weiter.«
»Ein Kind verschwindet nicht einfach. Nicht von sich aus. Es muss jemand damit zu tun haben«, fuhr Tamar fort. »Und wenn ein solches Kind jetzt, als Erwachsener, zurückkehrt, dann ist das Geschehen von damals ja nicht ausgelöscht. Sie haben vorhin gesagt, Sie seien ein Ordnungshüter. Gut. Als Ordnungshüter müssen Sie dafür sorgen, dass dem Heimgekehrten nicht noch einmal etwas zustößt. Sie müssen dafür sorgen, dass niemand den Erwachsenen zum Schweigen bringt, weil er erzählen könnte, was dem Kind widerfahren ist. Also?«
Der Polizeidirektor schwieg, als wolle er über ihre Worte nachdenken. »In Ordnung«, sagte er schließlich. »Übrigens habe ich Walliser bereits gebeten, Ihnen heute Nachmittag sämtliche Informationen zum Fall Jehle auszuhändigen, die Sie wünschen. Dabei sollte es kein Problem geben, er will sowieso nichts mehr damit zu tun haben. Außerdem werde ich Ihnen eine Beamtin der Schutzpolizei zur Verfügung stellen, die in Aeschenhorn aufgewachsen ist und die örtlichen Verhältnisse dort kennt.«
Die Bedienung brachte die beiden Hauptgerichte und stellte sie auf den Rechaud.
»Was ist die Gegenleistung?«
»Sie werden mich auf dem Laufenden halten«, antwortete der Polizeidirektor und begann, sich Reis zu nehmen.
S chulhefte, die Etiketten sorgfältig in Kinderschrift ausgefüllt, ein Federmäppchen, Geo-Dreieck und Rechenschieber, Zirkelkasten, alles komplett. Hatten wir wirklich noch Rechenschieber damals? Er konnte sich nur dunkel erinnern, immerhin erkannte er das Teil, also musste es auch bei ihm noch verwendet worden sein, so unglaublich es ihm erschien, dass er wirklich einmal Mathematikunterricht gehabt hatte.
Schließlich zog er die Schublade ganz heraus und tastete die Schreibtischplatte von unten ab. Aber da war kein Versteck. Er schob die Lade wieder ein und wandte sich den Seitenfächern zu. Weitere Hefte, in verschiedenfarbige Umschläge eingebunden. Ein Zeichenblock. Ein Album mit Briefmarken, die Musikinstrumente aus aller Welt zeigten. Und nirgends etwas darunter? Doch. Ein Heft von »Boy & Girl«, November 1989, er blätterte es durch, nein, kein Beitrag über »Onanieren - aber richtig«, dafür ein Test mit zehn Fragen: »Bin ich schwul?«, der Test war nicht ausgefüllt worden.
Er stand auf und sah sich um. Den Flügel schaltete er aus seiner Wahrnehmung aus. Das Ding war ihm zu unwahrscheinlich. Es musste sich um einen intergalaktischen Speditionsunfall handeln, ganz klar, und der Flügel wurde jetzt in irgendeinem anderen Universum vermisst. Sie müssen verstehen, hörte er sich sagen, für manche Zivilisationen ist es gar nicht einfach, so schweres Gerät zu beamen.
Aber erstens redete er nicht, und zweitens befand er sich auch nicht in einem Science-Fiction-Film über die Weltraumreisen lackierter Stutzflügel.
Obwohl man nie sicher sein kann.
Wieder zog das Bücherregal seinen Blick auf sich. In einem Fach war das Steuerungsgerät einer HiFi-Anlage mit Plattenspieler, CD-Gerät und Kassettenrecorder aufgebaut, die Anlage sah veraltet, aber doch auch teurer aus als alles, was er selbst je gehabt hatte, und ein paar Kopfhörer gab es auch, aber ja doch, damit das
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