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Forellenquintett

Titel: Forellenquintett Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Ritzel
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war eine davon. Er drehte sich um und ging blicklos an den beiden alten Leuten und den Besuchern vorbei ins Treppenhaus und dann hinauf in das Zimmer, in dem er übernachtet hatte, und schloss die Tür hinter sich. Am Fenster stand ein Schreibtisch aus hellem Holz, er setzte sich auf den Stuhl davor und stützte den Kopf in beide Hände.
    Es geht nicht, dachte er. Ich muss hier raus. Aus diesem Haus, aus diesem Dorf, in den nächsten Wald, aber ich kenne mich nicht aus, sie werden mich suchen, also muss ich den nächsten Bus nehmen, dann einen Zug, egal wohin, vielleicht nach München oder gleich weiter, nach Wien oder Mailand...
    Unsinn. Ich habe nicht einen Cent in der Tasche.
    Es klopfte, er schloss die Augen, dann öffnete sich die Tür. Es musste die Alte Frau sein, er hatte es an den etwas mühsamen Schritten gehört, mit denen sie die Treppe heraufgekommen war.
    »Du musst entschuldigen, Bastian«, sagte sie zu seinem Rücken, »das war vorhin wirklich keine gute Idee, aber Papa hat gemeint, wir könnten die Leute nicht einfach wegschicken.« Damit war sie ins Zimmer gekommen und stehen geblieben, offenbar ratlos. Er drehte sich um.
    In beiden Händen hielt sie eine Bodenvase mit den Blumen der zweifachen Großmutter. Suchend blickte sie sich um, dann fasste sie den Flügel ins Auge.
    Er schüttelte den Kopf, stand auf und nahm ihr die Blumen ab. Für einen Augenblick überfiel ihn die Versuchung, zum Fenster zu gehen und alles hinauszuwerfen. Pädagogisch gesehen wäre es das Beste gewesen. Aber die Menschen sind, wie sie sind, er hatte sie nicht zu erziehen.
    Er nahm die Vase und stellte sie neben den Schreibtisch, aber so, dass noch Licht auf die Blumen fiel.
    »Ach! Du hast genau die richtige Stelle gefunden«, sagte die Alte Frau, »nirgendwo anders kommen sie so schön zur Geltung!« In einer halben Stunde gebe es Mittagessen, fügte sie hinzu, nichts Besonderes, Rindsroulade und Rosenkohl. »Rosenkohl hast du doch immer gemocht.«
    Sie ging und zog behutsam die Tür hinter sich zu, so behutsam, wie man dies beim Verlassen eines Krankenzimmers tut, und mit dem Schließen dieser Tür überfiel ihn das Gefühl, als sei eine unwiderrufliche Entscheidung für oder eher über ihn gefallen. Er setzte sich wieder an den Schreibtisch und versuchte nachzudenken, aber es waren nichts als sinnlose Worte, die ihm durch den Kopf gingen, die er verscheuchte und über die er doch gleich wieder an der nächsten Gehirnwindung stolperte, sinnlose Worte wie Rindsroulade, Bastian und Rosenkohl.
    Er hob die Schultern und ließ sie wieder fallen. Und dann, unvermittelt und ohne recht zu wissen, warum, zog er die Schublade des Schreibtisches auf.
     
     
     
    D er Fahrstuhl brachte Tamar in das oberste Stockwerk des Hochhauses und entließ sie in ein von züngelnden Drachen und fettleibigen Buddhas geschmücktes China-Restaurant. Als Entschädigung dafür bot ein Panoramafenster Sicht über die Stadt und den silbrig in der Herbstsonne schimmernden See bis hin zu der blauen Zackenlinie der Alpen, deren Gipfel bereits vom ersten Schnee eingestäubt waren.
    Der Leitende Polizeidirektor v. Oerlinghoff saß an einem Tisch am Fenster und hob die Hand, um ihr ein Zeichen zu geben.
    »Nett, dass Sie mich hierher eingeladen haben«, sagte sie und setzte sich. »Von mir aus hätte ich ein China-Restaurant bestenfalls wieder in ein paar Wochen ausgesucht.«
    Er bat um eine Erklärung, und sie berichtete von ihrer Frankfurter Hotel-Übernachtung. Das tue ihm natürlich leid, sagte er und erklärte, dass er leider gezwungen sei, hier oben zu essen. »Es ist einer der wenigen Orte in dieser Stadt, von denen aus man dieses abscheuliche Hochhaus nicht sieht.«
    »Das ist natürlich ein sehr überzeugender Grund«, fand Tamar und beschloss, sich nicht auf allzu viel Geplauder einzulassen. Rupert Max von Oerlinghoff kam aus dem Innenministerium, nach einer Regierungsumbildung war er aus Stuttgart in die Provinz weggelobt worden, er war also ein Karrierist mit einem Karriereknick, warum sollte sie deshalb mit ihm fraternisieren?
    »Und Sie haben den weiten Blick auf den See«, fuhr er fort, »für eine Kriminalistin muss das doch faszinierend sein, finden Sie nicht?«
    Tamar ließ die Speisekarte sinken und gestand, dass sie ihm nicht ganz folgen könne.
    »Der Bodensee gibt seine Toten nicht gerne her«, erklärte Oerlinghoff. »In der Tiefe ist das Wasser zu kalt, keine Verwesung, keine Gase, kein Auftrieb.« Er machte mit der Hand eine

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