Forellenquintett
sie noch lebt...« Seine Stimme nahm wieder ihren vorigen Tonfall an, den des Hauptkommissars Walliser, Norbert, der vor der Ersten Großen Strafkammer seine Zeugenaussage macht. »Allerdings ist das Mountainbike des Jungen nicht am Ufer oder in der Nähe davon gefunden worden, sondern Wochen später in Lindau. Ein Halbwüchsiger war damit unterwegs und fiel einer Streife auf.«
»Und?«
»Fehlanzeige«, antwortete Walliser. »Der Halbwüchsige hatte das Wochenende vom zehnten bis zwölften Mai in einem Freizeitarrest verbracht. Das Rad will er ein paar Tage danach an einem Minigolfplatz in Wasserburg gefunden haben. Es sei nicht abgeschlossen gewesen. Der Minigolfplatz ist etwa acht Kilometer von Aeschenhorn entfernt. Wir haben dem Pächter des Platzes Fotos gezeigt, er war sich sicher, dass Bastian Jehle nie bei ihm war.«
»Konnte sich dieser Pächter denn so gut an alle seine dreizehnjährigen Gäste erinnern?«
»Negativ«, sagte Walliser knapp. »Der Mann war verheiratet.«
Tamar verzog das Gesicht zu einem skeptischen Lächeln.
»Wirklich nicht«, beharrte Walliser. »Am fraglichen Wochenende war die Anlage wegen Hochwassers geschlossen.«
»Na schön«, meinte Tamar. »Was ist mit den sonstigen Kinderfreunden?«
»Auch denen sind wir nachgegangen. Jedenfalls, soweit sie uns bekannt waren. Ein Kaplan in St. Aigen, ein Trainer aus einem Friedrichshafener Fitnessstudio, ein Düsseldorfer Boutiquen-Besitzer, der im Aeschenhorner Hafen eine Motoryacht liegen hat.... alles negativ. Der Düsseldorfer war am Samstag auf der Anreise in einem Stau in Mannheim steckengeblieben, und der Fitnesstrainer lag mit Gelbsucht im Krankenhaus.«
»Und Merkwürden?«
»War an jenem Wochenende mit dem Frauenkreis in Österreich. Auf einem Besinnungswochenende in St. Pölten.«
»Was wissen wir über Bastian Jehle?«
»Ein Einzelkind. Mit dreizehn Jahren körperlich noch nicht sehr entwickelt, offenbar auch kein herausragender Schüler, wenig sportlich, kein guter Schwimmer.«
Tamar blickte auf. Merkwürdige Information. »Wer hat das mitgeteilt und warum?«
»Was mitgeteilt?«
»Dass er kein guter Schwimmer war.«
»Sein Klassenlehrer.« Plötzlich schien Walliser verwirrt. »Ein Studienrat Handloser, Vorname Rudolf. Warum fragen Sie?«
»Nur so.« Tamar machte sich eine Notiz. »Bastian kam vom Klavierunterricht. War er denn musikalisch begabt?«
»Das kann ich nun wirklich nicht beurteilen.« Walliser zuckte mit den Achseln. »Ich weiß nur, dass die Eltern große Hoffnungen in ihn gesetzt haben.«
Tamar überlegte. Einzelkind. Wenig sportlich. Aber Klavierunterricht. »War er ein Einzelgänger?«
»Vermutlich. Einen Freund hatte er nicht. Und die Mädchen haben ihn wohl nicht für voll genommen.«
»Waren die Hoffnungen, die die Eltern hatten, vielleicht zu groß?«
»Auch das haben wir uns überlegt. Aber wer mag so etwas den Eltern an den Kopf werfen? Der Klavierlehrer, ein Professor Windisch, hat von ›schönen Fortschritten‹ geredet, die Bastian gemacht habe, was immer das bedeutet. Jedenfalls hat niemand etwas von psychischen Problemen oder Anzeichen einer Depression bemerkt.«
Tamar sah ihn nur an.
»Ich weiß«, sagte Walliser. »Was mit einem Menschen wirklich los ist, das kriegt man meist nicht mit.«
Montag, 10. Oktober, Nachmittag
H ören Sie das?«, sagte Stefanie und deutete nach oben, wo schon wieder die Türglocke angeschlagen hatte, »der Laden läuft heute richtig gut.« Sie stand auf und stieg die Wendeltreppe hoch. Er sah ihr nach und fuhr dann fort, die Ware auszupacken, die kurz nach dem Mittagessen gekommen war, Monstermasken für Halloween mit herausquellenden blutunterlaufenen Augen und schwarze Umhänge mit aufgemalten weißen Gerippen, unversehens hielt er einen Totenkopf aus Plastik in der Hand.
Das hatte gar nicht anders kommen können, dachte er und stellte sich den Großen Spieler vor, der in einem fernen Universum auf seiner Konsole einen zufällig gewählten Namen und einen Begriff miteinander verknüpfte, nur um zu sehen, was das System damit anstellte und welche Konfigurationen sich daraus ergaben. Und er? Er hatte nichts weiter zu tun, als abzuwarten, in welcher Weise die nächste Begegnung stattfinden würde.
Das Fitzelchen Rindsroulade, das ihm in den Zähnen hängen geblieben war, holte ihn in die mit Plastik versetzte Wirklichkeit des Spiel- und Schreibwarenladens Jehle zurück. Dabei war die Rindsroulade keineswegs zu zäh gewesen, überhaupt würde es nicht
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