Forellenquintett
der in der Pause verstohlen von einer Hand in die andere gedrückt wird.
Natürlich kannst du einen Zettel auch in die Platten- oder in das CD-Cover schieben, geht alles, aber das ist so nahe liegend, dass darauf sogar die Bullerei kommt.
Langsam näherte er sich dem Regal und blieb vor dem Fach stehen, in dem Musikkassetten aufgestellt waren. Ein Schatten flog ihn an, und plötzlich war diese Erinnerung wieder da, er war zwölf und saß vor dem Radio, Glenn Gould spielte ein Klavierkonzert von Bach, und er versuchte, das mit seinem Recorder aufzunehmen. Er schüttelte den Kopf, die Erinnerung war ihm peinlich, sie leitete unweigerlich zu den Tagträumen über, die er als Zwölfjähriger und noch lange Zeit danach gehabt hatte, Schwamm drüber.
Die Kassetten waren in mehreren Reihen gestapelt, die meisten von ihnen waren Einspielungen von Konzertaufnahmen, zumeist mit den Pianisten der allerersten Garnitur, Richter, Barenboim, Horowitz... Ist ja gut, dachte er und zog probeweise einzelne der Tonträger aus ihren Plastikkassetten, nur um zu sehen, ob auch drin war, was drauf stand.
Aber es war alles so aufgeräumt und an seinem Platz, wie es in diesem Haus nicht anders sein konnte. Er stellte die Aufnahmen wieder an ihren Platz und trat einen Schritt zurück. Erst jetzt fiel sein Blick auf eine weitere Reihe von zehn oder zwölf Kassetten, deren Rücken keinen Aufdruck trugen. Er zog eine davon heraus und öffnete sie, der Tonträger war von Hand beschriftet, von der gleichen Kinderhand, die auch die Etiketten der Schulhefte ausgefüllt hatte:
20. Nov. 89, Chopin, Scherzo b-Moll, op. 31
Er zögerte kurz, schaltete dann aber doch den Recorder ein und setzte die Kopfhörer auf. Die Kassette knisterte, dann die ersten Akkorde, keine Fehler, oder keine, die ihm auffielen, alles etwas zu langsam, zu brav, eigentlich war sofort klar, dass es kein Erwachsener sein konnte, der da spielte, also war es doch dieser Bastian, technisch nicht schlecht, vielleicht sogar ein nettes kleines Talent, aber kein Wunderkind... Der Klavierlehrer muss den Verstand verloren haben, dachte er dann, man mutet einem Zwölf- oder Dreizehnjährigen so etwas nicht zu, gegen Ende des ersten Teils musste ein lyrischer Abschnitt kommen, con anima zu spielen, was sollte ein Kind damit anfangen? Dann die Arpeggien, bis hinab zur tiefen Des-Oktave, das ist schon gar nichts für eine Kinderhand, und richtig hörte er hier auch die ersten Grifffehler. Er schaltete wieder ab, und für einen Augenblick war er versucht, in dem Fach mit den Noten nach dem Chopin-Scherzo zu suchen...
Du lässt die Finger davon, wies er sich zurecht, und vor allem rührst du diesen Flügel nicht an, um keinen Preis! Er stellte den Tonträger wieder zurück und sah sich die nächsten Kassetten an, auch sie mit der Kinderschrift auf dem aufgeklebten Papierstreifen. Bastian Jehle hatte also eifrig aufgenommen, was er an Etüden und Sonaten halbwegs zu Ende hatte spielen können, nicht alles so abwegig wie das Scherzo in b-Moll, Beethovens Rondo »Wut über den verlorenen Groschen« und die Mondschein-Sonate waren darunter, dann wieder von Chopin das Regentropfen-Prélude...
Es musste also ein Mikrofon vorhanden gewesen sein. Ein Mikrofon? Damit könnte auch anderes aufgenommen worden sein. In einem Buch hatte er einmal ein Liebesgedicht gefunden und es auf Kassette gesprochen, um es einer Ines zu schenken, aber die Ines hatte das Gedicht mit dem Gekreisch von drei Mädchen überspielt und ihm zurückgegeben, und was die Mädchen kreischten, war nichts weiter gewesen als: »Ich find dich scheiße...«
Er schüttelte den Kopf. Sollte er sich nun wirklich diese ganzen Etüden und Sonaten antun, nur um zu hören, ob irgendwo eine Nachricht oder Botschaft dieses verschwundenen Bastian versteckt war? Er ging die Kassetten durch, zog sie heraus und schob sie wieder in ihre Reihe, und alle waren sie in der gleichen Weise beschriftet.
Mit einer Ausnahme.
Auf der neunten Kassette war in einer Schrift, die weniger rund, weniger ordentlich war als auf den anderen Etiketten, mehr hingekritzelt als eingetragen:
»2. 5. 1990, Schub. For. Quint. Klav. Ausz.«
Er zögerte, dann nahm er den Tonträger heraus und legte ihn ein.
G emalter Sonnenschein und Himmelsglanz in Blattgold, polierte Marmorfliesen, Sankt Jodokus war wohl ein Eremit, segnete er die Einsamen? Die kleine Kerze kostet fünfzig Cent, wir bitten um eine dem Gotteshaus angemessene Kleidung, während des
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