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Forellenquintett

Titel: Forellenquintett Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Ritzel
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der Klavierauszug, leider nahm sich der Pianist zu wichtig, im Ernstfall würde er das so nicht spielen können, oder er bekäme Ärger mit den Streichern. Aber ein Kind oder ein Halbwüchsiger war er nicht, das Spiel war zu glatt, zu routiniert, zu gefällig, irgendwann löste es sich von der Partitur, der Pianist begann das Leitmotiv zu paraphrasieren, er verhackstückte Schubert zu gefälliger Salonmusik, wer um Himmels willen tat so etwas und warum?
    Klar, der Pianist besaß eine gewisse professionelle Fertigkeit. Berufsmusiker? Vielleicht. Künstlerischer Rang? Ach, geh mir weg mit Hochkultur und künstlerischem Rang! Warum, zum Henker, muss einer Klavier spielen können?
    Ja, warum wohl.
    Er sah sich noch einmal das Etikett an und verglich die Handschrift mit der auf den anderen Kassetten. Es war die gleiche Schrift und auch wieder nicht. Wie ging das zu? Von ferne meldete sich ein Einfall, und er sah sich noch einmal die Daten an, die auf den Etiketten vermerkt waren. Die meisten der Kassetten waren Ende 1989 und dann um den Jahreswechsel 1989/1990 herum aufgenommen worden, die Bearbeitung des Forellenquintetts als Einzige aber erst wieder im Mai 1990. Wie kam’s? Er klopfte sich gegen die Stirn und musste lächeln. Die Sache war so klar wie der Himmel über Höchst. Der wohlerzogene, akkurate Knabe Bastian Jehle musste in der Zwischenzeit in die Pubertät geraten sein. Deswegen war die Schrift plötzlich nicht mehr rund und wie von Schülerhand gemalt, sondern eckiger, fahriger, weniger ordentlich. Trotzdem blieben Fragen. Eine davon: Warum wurde ab Jahresbeginn monatelang nichts mehr aufgenommen, sondern erst wieder im Mai?
    Aber auch hier liegt die Antwort auf der Hand, dachte er. Was dieser Bastian Jehle da aufgenommen hatte, das war ja nicht locker heruntergespielt. Das waren Fleißarbeiten, immer und immer wieder geübt und während der Aufnahme vermutlich mehrmals neu eingespielt, bis entweder der Bub oder seine Mama ein Einsehen hatte und sagte, so lassen wir’s jetzt... Das war auch der Grund, warum die meisten Einspielungen in den Weihnachtsferien 1989/90 entstanden waren. Danach war Schule, und Schule bedeutet Klassenarbeiten, Pauken, Stress, vielleicht soviel Stress, dass der liebe Bastian die Lust an der Klavierspielerei verlor oder jedenfalls keine Zeit mehr hatte, sein Geklimper aufzunehmen.
    Und dann? Der kleine Jehle wäre nicht der Erste gewesen, der in der Pubertät mit einem Schlag ganz einfach keinen Bock mehr hatte, auf die Schule nicht und nicht auf das Klavierspielen und nicht auf all die andressierten kleinen Kunststücke.
    Warum dann aber die Aufnahme vom Mai 1990? Man müsste wissen, dachte er, wen der kleine Jehle damals aufgenommen hat. Es musste irgendein Mensch gewesen sein, der mit einiger Fertigkeit alles, was ihm auf dem Klavier unter die Hände kam, zu Schnulzen verarbeiten konnte, eine Art Jacques Loussier, in den Gefilden der Romantik wildernd. Und der Knabe Jehle, tief beeindruckt, nahm es auf, um es bei passender Gelegenheit als eigenes Erzeugnis zu präsentieren, zum Beispiel als Schmusemusik für den Fall, dass ihm ein Mädchen aufs Zimmer mitkam, so etwas würde es ja auch in diesem Nest am Bodensee geben. Denn warum muss einer Klavier spielen können? Darum. So, wie andere Leute ein Rilke-Gedicht auf Kassette sprechen.
    Noch einmal sah er sich den Tonträger des Forellenquintetts an und verglich ihn mit den anderen Kassetten. Die Bänder stammten nicht vom gleichen Hersteller, aber es gab keinen Grund, warum das so hätte sein sollen. Er legte probeweise die »Wut über den verlorenen Groschen« auf, hielt den Recorder aber nach wenigen Takten wieder an und tauschte die Kassette erneut aus, diesmal gegen das Regentropfen-Prélude.
    Danach bestand für ihn kein Zweifel mehr. Die Einspielung des Forellenquintetts war - obwohl jünger als die anderen Aufnahmen - hörbar stärker abgespielt als Bastian Jehles eigene Klavierübungen. Er muss es ziemlich oft versucht haben, dachte er.
    Was aber hatte das alles mit ihm zu tun? Alles und nichts. Ihn gab es ja gar nicht. Er war nurmehr als Bastian Jehle vorhanden. Vielleicht wäre es kein Fehler, etwas mehr über den Menschen zu erfahren, zu dem man ihn gemacht hatte.
    Er stand auf und zog seine Schuhe an, denn er hatte beschlossen, den Fußboden im Lager unten zu kehren.
     
     
     
    M arlen Ruoff bog aus der Tiefgarage nach rechts ab und dann wieder nach rechts. »Das ist die Korbmachergasse«, erklärte sie. »Von dort

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