Forellenquintett
Gottesdienstes nicht fotografieren... Die Sonne war verschwunden, draußen an der Friedhofsmauer schäumten weiße Kronen auf grauem See, ganz fern am kaum sichtbaren Schweizer Ufer konnte Tamar Wegenast ein rotes Licht blinken sehen: Sturmwarnung?
»Mein Gott«, sagte Marlen Ruoff, »dieser Geruch nach Weihrauch...« Sie schüttelte sich. »Ich ertrage ihn nicht. Seit meiner Erstkommunion ist das so. Ich war das einzige Kind, bei dem nur die Großmutter und zwei alte Tanten mit in der Kirche waren. Und die eine Tante hatte Migräne, und die andere war eigentlich gar nicht mit uns verwandt... Entschuldigen Sie, dass ich so etwas an Sie hinrede, das kann Sie ja gar nicht interessieren.«
»Macht nichts«, sagte Tamar. Trotzdem hatte sie keine Lust, Kindheitserinnerungen auszutauschen. Die beiden Frauen gingen über den kleinen Kirchplatz und durch eine Gasse zwischen zweistöckigen Fachwerkhäusern, die Gasse mündete in einen kleinen Platz, in dessen Mitte ein moderner Bau aus Holz und Glas stand, mit einem ausladenden hohen Dach.
»Ich hab Ihnen doch erzählt, wie der Bastian als Pianist hat auftreten müssen«, erklärte Marlen Ruoff, »das war hier, in der Zehntscheuer. Sie machen inzwischen ein ganz gutes Programm, also nicht bloß Streichquartette oder Klavierabende und solches Zeug, sondern auch Kleinkunst oder Jazz.«
»Wirklich?« Tamar war vor der Eingangstür stehen geblieben und betrachtete ein großes karmesinrotes Plakat mit goldener Schrift, die Ankündigung eines Konzerts unter dem Motto »Aus allen Herzen den Himmel preisen«, das Konzert sollte am Mittwoch, dem 12. Oktober, stattfinden. Eine Unterzeile teilte mit, dass es sich dabei um den Auftakt des »Aeschenhorner Herbstes« handle, mit ausschließlich einheimischen Künstlern.
»O nein«, entfuhr es Marlen Ruoff, die erst jetzt auf das Plakat aufmerksam geworden war, »da sehen Sie, dass ich nicht auf dem Laufenden bin. Das ist nämlich genau das Aeschenhorn, wie es schon immer war, und ganz sicher hat das wieder der Professor Windisch angerichtet! Warten Sie...« - sie deutete auf eine der unteren Zeilen - »... da haben Sie ihn schon: Künstlerische Leitung Professor Carl - Maria Windisch, das ist... zum Speien ist das, glauben Sie mir!«
»Windisch ist Bastians ehemaliger Klavierlehrer, nicht wahr?«, fragte Tamar. »Dann werden wir ja noch das Vergnügen haben.«
Eine Gasse öffnete links einen Durchblick zum Marktplatz mit seinen Platanen und dem goldenen Schild des Seehof, doch Marlen zeigte geradeaus, in eine andere kleine Gasse, die von einstöckigen, verputzten Häusern gesäumt wurde.
»Wenn wir gerade dabei sind«, sagte Marlen Ruoff, »hier geht es zum Alten Schulhaus. Wollen Sie es sehen? Bastian hatte dort seinen Klavierunterricht.«
Tamar nickte und folgte ihrer Führerin, ohne weiter darüber nachzudenken. Die Reihe der kleinen Häuser hörte auf, an ihre Stelle trat ein großes zweistöckiges, weiß verputztes Gebäude mit Walmdach, grün gestrichenen Fensterläden und einem vorspringenden Portal aus Sandstein. Über dem von zwei Kastanien flankierten Eingang hing ein schmiedeeisernes Wirtshausschild, auf dem in nachgeahmter Sütterlinschrift »Zum Alten Schulhaus« stand. In den Fenstern des Erdgeschosses brannte Licht. Umgeben war das Grundstück von einem vor Alter grauen Staketenzaun, an dem entlang ein Fußweg im rechten Winkel von der Straße abzweigte.
»Ich weiß nicht genau, wann hier zum letzten Mal Schulunterricht gegeben wurde.« Marlen Ruoff war stehen geblieben. »Vermutlich in den sechziger Jahren. Irgendwann sollte es dann abgerissen werden, doch der Denkmalschutz legte sich quer, und schließlich wurde es von Professor Windisch angemietet...« Sie unterbrach sich und schnitt eine Grimasse. »Sein Professorentitel muss übrigens ein sehr bedeutender sein, denn er legt großen Wert auf ihn.«
»Aber er wohnt nicht mehr hier?«
»Vor ein paar Jahren hat er das verwitwete Aktienpaket und die Villa von einem verstorbenen Prokuristen der Zahnradfabrik geheiratet«, antwortete Marlen Ruoff, »natürlich auch die Witwe, obwohl die - glaube ich - nicht so ganz sein Geschmack ist...«
Und was ist denn so sein Geschmack?, wollte Tamar fragen, doch das Vibrieren ihres Mobiltelefons drängte sich dazwischen. Sie holte es heraus und meldete sich.
»Ramiz spricht«, kam es aus dem Hörer. Es war eine Männerstimme, angespannt, ein wenig heiser.
Tamar fragte, was sie für ihn tun könne.
»Mit dir rede. Aber
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