Forgotten
Küchengeräten, Kisten voller Aufzeichnungen aus vergangenen Jahren und kaputter Spielzeuge in der Rumpelkammer unter der Treppe zu vergraben.
Ich nehme mir nicht die Zeit, über die Konsequenzen meiner Tat nachzudenken. Stattdessen knipse ich das Licht im Keller aus, renne wieder die Treppe rauf und verkrieche mich unter der Bettdecke. Dann erlaube ich mir, bis zum Einschlafen an Luke zu denken.
In dieser Nacht kommt der Schlaf viel zu schnell.
28
Eine Hand packt mich am rechten Ellbogen, gerade als ich mein Anatomiebuch aus den Tiefen meines Schließfachs fischen will. In meinen Aufzeichnungen stand, dass ich am Wochenende die Hausaufgaben nicht fertiggemacht habe, ich muss es also während der Stillbeschäftigung nachholen.
Ich fahre zusammen – nicht weil die Berührung besonders grob wäre, sondern weil mein Arm noch weh tut, nachdem ich in Sport in der ersten Stunde gestürzt bin – ausgerechnet beim Volleyball. Eigentlich bewegt man sich beim Volleyball ja kaum, und trotzdem ist es mir gelungen, auf den Ellbogen zu fallen, woraufhin ein winziges Stück Knochen abgesplittert ist und sich direkt in einen Nerv gebohrt hat. Zumindest fühlt es sich so an. Wahrscheinlich ist es bloß mal wieder eine Prellung.
»Aua!«, sage ich mit Nachdruck und drehe mich zu dem Unbekannten um.
Keine Ahnung, wen ich erwartet habe – aber mit Sicherheit nicht den umwerfenden Typen, der jetzt vor mir steht.
Er lässt meinen Arm los, als hätte er sich daran verbrannt. In seinen vollkommenen blauen Augen sehe ich Verwirrung, Wut, Verletztheit und sogar eine Spur flehende Verzweiflung. Ich kenne ihn nicht, wünsche mir aber, ich würde ihn kennen.
»Entschuldige. Ich wollte dir nicht weh tun«, sagt er leise. Seine Stimme klingt weich und hat eine seltsam beruhigende Wirkung auf mich.
»Nein, nein, ist nicht deine Schuld«, beeile ich mich zu sagen, während ich mir den Ellbogen reibe. »Ich bin in Sport hingefallen. Ich bin manchmal ein bisschen tollpatschig.«
Der Junge schenkt mir ein trauriges Lächeln, und in seiner rechten Wange sehe ich ein Grübchen. Mein Magen verknotet sich, und auf einmal bin ich ganz verlegen. Unsicher trete ich von einem Fuß auf den anderen.
Irgendwann wird mir klar, dass ich ihn schamlos anglotze. Mühsam reiße ich mich von ihm los und stecke den Kopf wieder ins Schließfach, um endlich das Buch zu holen, das ich eigentlich haben wollte.
»Ist irgendwas?«, frage ich, den Blick immer noch in die Tiefen meines Schließfachs gerichtet, betont lässig.
»Ich muss mit dir reden«, raunt er daraufhin.
Ich stopfe das Buch, einen Schreibblock und einen Kuli vom oberen Regal in die übergroße weißgrau gestreifte Schultertasche, die ich heute Morgen im Garderobenschrank gefunden habe, und werfe die Schließfachtür zu. Es ist viel Betrieb auf dem Gang, und das Mädchen neben uns stöhnt demonstrativ, um anzuzeigen, dass sie gerne an ihre Sachen möchte. Der schöne Unbekannte steht ihr im Weg.
»Sorry«, murmelt er und macht ihr Platz.
»Schon gut.« Das Mädchen drückt sich an ihm vorbei.
Jetzt steht er so, dass er mir den Weg versperrt, und allmählich beginne ich meinen Wunsch, ich würde ihn kennen, zu überdenken. Seine Aufdringlichkeit hat irgendwie etwas Unheimliches.
»Alles in Ordnung mit dir?«, frage ich. Vielleicht stimmt irgendwas nicht mit ihm? Hauptsache, er macht mir hier keine Szene. Ist das vielleicht der Grund, weshalb ich mich nicht an ihn erinnern kann?
Ich halte die Tasche vor die Brust gepresst und mache einen Schritt zur Seite, aber er sieht das Manöver kommen und verstellt mir erneut den Weg. Er senkt den Kopf ein wenig und sieht mir genau in die Augen, bevor er spricht.
»Nein, London, es ist nicht alles in Ordnung. Wir streiten uns ein Mal, und das war’s? Du rufst nicht zurück. Du warst nicht zu Hause, als ich gestern vorbeigekommen bin. Wir müssen dringend darüber reden.«
Als er mit dieser Ansage fertig ist, richtet er sich wieder auf, ohne jedoch den Blickkontakt zu unterbrechen. Ich weiß nicht, was ich sagen soll, also entscheide ich mich für die Wahrheit.
»Tut mir echt leid, aber ich hab keine Ahnung, wovon du redest. Ich kenne dich nicht mal.« Zum Trost schenke ich ihm ein kleines Lächeln.
Es ist, als wäre in seinem Kopf plötzlich eine Glühbirne angegangen. Er richtet sich kerzengerade auf, und seine Augen verengen sich zu Schlitzen. Dann schüttelt er den Kopf und sieht mich böse an.
»Sehr erwachsen, London, echt. Vielen Dank
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