Forgotten
auch«, zischt er. Dann dreht er sich um und marschiert in dieselbe Richtung davon, in die ich gleich gehen muss.
Das Mädchen mit dem Schließfach nebenan kichert, als sie an mir vorbeigeht. Sie hat die ganze Unterhaltung mit angehört. »Wenn du ihn nicht willst, ich nehme ihn gerne.«
Ich warte, bis der Unbekannte außer Sichtweite ist, dann mache ich mich auf den Weg zur Bibliothek. Unterwegs lasse ich mir die seltsame Begegnung noch mal durch den Kopf gehen, aber noch immer kann ich mir keinen Reim darauf machen. Ich schiebe die schwere Tür auf und gehe zwischen den Metalldetektoren durch nach hinten. Na ja, wenigstens habe ich jetzt eine ganze Stunde Zeit, über die Sache nachzudenken.
Ach so. Und um meine Anatomie-Hausaufgaben zu machen, natürlich.
Erst als ich zu der Tischgruppe komme, die für die Stillbeschäftigung reserviert ist, wird mir mein Pech klar:
Der Unbekannte sitzt schon da, und zwar an dem einzigen Tisch, an dem noch Plätze frei sind.
Na, wunderbar.
Überraschenderweise versucht der umwerfende Freak nicht, mich erneut in ein Gespräch zu verwickeln, sondern kritzelt die ganze Stunde über wie ein Wahnsinniger auf seinem Schreibblock herum, so dass ich in Ruhe meine Hausaufgaben erledigen kann und danach sogar noch ein bisschen Zeit übrig habe. Trotzdem ist sein Schnaufen und Gestöhne und Geseufze ziemlich nervig. Ein bisschen unentspannt heute, was?
Ich sitze mit gepackten Sachen da, bereit, sofort aufzuspringen, wenn es in vierundvierzig … dreiundvierzig … zweiundvierzig Sekunden läuten wird. Der Junge schreibt immer noch. Wie hypnotisiert starre ich auf die Muskeln in seinem linken Unterarm, während der Kuli über die Seite fliegt. Sein abgetragenes T-Shirt sieht ganz dünn und babyweich aus und sitzt perfekt an seinem muskulösen Oberkörper. Ich verspüre den unerklärlichen Drang, die Haarlocke zu berühren, die hinter seinem linken Ohr hervorspitzt …
»Was ist?«, bellt er urplötzlich und funkelt mich an. Einige andere Schüler, die bis jetzt fest den Sekundenzeiger im Blick gehabt haben, drehen sich neugierig zu uns um.
»Was soll sein?«, zische ich zurück, und mein Blick wandert wieder zu der Normaluhr an der Wand, die mir sagt, dass ich in zwanzig … neunzehn … achtzehn Sekunden aus dieser unangenehmen Situation erlöst sein werde.
Ich höre, wie der Unbekannte die vollgeschriebenen Seiten rausreißt. Noch ein Indiz dafür, dass irgendwas mit ihm nicht ganz in Ordnung ist: Man würde doch meinen, dass er seine Hausaufgaben bis zur nächsten Stunde lieber im Block lassen möchte, wo sie nicht zerknittern oder verloren gehen können.
Endlich klingelt es, und ich springe so schnell auf, dass ich dabei fast meinen Stuhl umstoße.
»Warte«, sagt er, auf einmal wieder ganz sanft. Statt das Weite zu suchen, drehe ich mich zu ihm um.
»Lies das, bitte«, sagt er und reicht mir eine Seite. Keine Hausaufgaben. Sondern ein Brief an mich. Er ist einmal gefaltet, und außen steht mein Name drauf.
»Okay …«, sage ich gedehnt, aber er ist schon an mir vorbeigegangen, und ich stehe ganz allein in der riesigen, menschenleeren Bibliothek. Nur ein seltsam vertrauter Geruch hängt noch in der Luft.
Ich beschließe, vor Mathe nicht zu meinem Schließfach zu gehen, damit ich Zeit habe, den Brief zu lesen. Vielleicht finde ich dann endlich heraus, weshalb dieser komische Typ so sauer auf mich ist.
Minuten später wird mir klar, dass das die richtige Entscheidung war.
Na ja, wie man’s nimmt.
Liebe London,
als Erstes möchte ich Dir sagen, dass ich Dich liebe. Bitte behalte das im Gedächtnis, während Du das hier liest …
Ich heiße Luke Henry, und ich bin seit Oktober Dein Freund. Aus irgendeinem Grund hast du keinerlei Zukunftserinnerungen an mich, und ich hätte gerne die Chance, herauszufinden, warum das so ist.
Du bist gerade sehr wütend auf mich, und mit Recht. Ich habe Dir nie gesagt, dass wir uns früher schon mal begegnet sind. Als Kinder waren wir zusammen im Sommerlager. Ich war damals schon fasziniert von Dir und davon, wie Du Dich jeden Tag aufs Neue mit mir angefreundet hast, obwohl Du Dich kein Stück an mich erinnern konntest. Du warst mein erster großer Schwarm, und jetzt bist Du meine erste große Liebe.
Nach dem Winterball am Samstag habe ich die Aufzeichnungen gefunden, die Du gemacht hast, um Dich an mich zu erinnern, und ich habe Dir die Wahrheit gesagt. Du hattest recht, als Du mir vorgeworfen hast, ich hätte Dich die ganze Zeit
Weitere Kostenlose Bücher