Forgotten
hören.
»Es ist fast zehn«, merkt Luke an, der meinem Blick gefolgt ist.
»Ich kann die Uhr lesen!«, schieße ich zurück.
»Soll ich gehen?«
»Ja«, sage ich schroff. »Aber erzähl erst noch zu Ende.«
»Ich bin dann am Tag nach der Prügelei zu dir gekommen, um Hallo zu sagen und mich noch mal bei dir zu bedanken, aber du wusstest überhaupt nicht, wer ich war. Zuerst war ich sauer. Ich dachte, du tust nur so, als würdest du mich nicht kennen. Als wärst du dir zu fein für mich oder so. Aber du warst nett und hast gleich ein Gespräch angefangen. Also hab ich gedacht, dass du an irgendeiner Art von Amnesie leidest. Ich hab dich gefragt, ob irgendwas mit deinem Gehirn nicht stimmt, und du hast gesagt: ›Nein, wieso, stimmt was mit deinem nicht?‹«
Einer von Lukes Mundwinkeln zuckt in Andeutung eines Lächelns nach oben. Er wartet kurz, dann redet er weiter.
»Ich hab nicht lockergelassen, und irgendwann hast du mich in eine dunkle Ecke geschleift und mir eröffnet, dass du ein großes Geheimnis hast. Dass du dich an die Zukunft erinnern kannst, aber nicht an die Vergangenheit. Ich musste schwören, dass ich es nie jemandem sagen würde, und ich hab mich dran gehalten.«
Luke hält inne, und ich starre ihn schweigend an. Als ihm klarwird, dass ich ihm keinen Orden dafür anheften werde, dass er all die Jahre mein Geheimnis bewahrt hat, räuspert er sich.
»Wir haben uns also jeden Tag neu kennengelernt. Manchmal haben wir ständig dieselben Gespräche geführt, aber wir hatten auch immer wieder neue Themen. Manchmal saßen wir ganz unten in einem dieser Klettergerüste, die aussehen wie ein Schweizer Käse, haben uns die Schuhe der Vorbeigehenden angesehen und versucht, zu erraten, wem sie gehören. Das hat Spaß gemacht. Du warst ziemlich gut.«
Ich falle aus allen Wolken. Das Schuh-Spiel, das ich spielen werde, solange ich denken kann, stammt aus meiner Kindheit? Von meiner Freundschaft mit Luke? Ich werde auf einmal ganz nostalgisch, beherrsche mich aber. Wut ist momentan einfacher.
Luke lächelt wehmütig, was mich noch mehr auf die Palme bringt. Ich knurre leise, und er versteht den Wink. Mit ernster Miene fährt er fort. »Als wir hierhergezogen sind und ich dich wiedergetroffen hab, da hab ich gehofft, dass du dich vielleicht doch noch an mich erinnern kannst. Aber spätestens an dem Abend, als wir aus Versehen in meinem Van eingeschlafen sind, wusste ich, dass es nicht so ist.«
Ich spüre ein leichtes Ziehen in meiner Herzgegend, als ich die Traurigkeit in seiner Stimme höre. Davon darf ich mich jetzt nicht beeindrucken lassen!
»War’s das?«
»London, es tut mir wirklich leid, dass ich es dir nicht schon früher gesagt hab.« Er macht langsam und vorsichtig zwei Schritte auf mich zu, als würde er sich einem verletzten Raubtier nähern.
Instinktiv weiche ich zurück und bringe mich vor ihm in Sicherheit. Dabei konnte ich ihm noch vor wenigen Minuten gar nicht nah genug auf die Pelle rücken.
»Du meinst, es tut dir leid, dass du mich belogen hast«, sage ich brüsk. »Dass du mich verarscht hast. Dass du meine Situation ausgenutzt hast.«
»Also, das ist vielleicht ein bisschen übertrieben«, sagt Luke und lacht leise. »Ich meine, du hast mich doch genauso angelogen.« Aus dem Lachen wird ein Grinsen, und mein Geduldsfaden reißt endgültig.
»Das ist was völlig anderes!«, schreie ich ihn an. »Du hast doch überhaupt keine Vorstellung davon, wie es sich anfühlt, wenn man jeden vergangenen Tag komplett vergisst! Ich wache auf und hab keine Ahnung, was ich gestern anhatte oder was ich gesagt oder getan hab. Ich kann mich an Sachen erinnern, die niemand – niemand – über sein eigenes Leben wissen sollte. Schreckliche Sachen. Sachen, die mir irgendwann passieren werden!«
Tränen laufen mir übers Gesicht. Luke macht einen weiteren Schritt auf mich zu, und ich hebe abwehrend die Hand. Er soll bloß nicht näher kommen.
Obwohl ich schluchze, rede ich weiter. »Ich hab schon genug Probleme, und jetzt auch noch so was! Meine beste Freundin will nichts mehr von mir wissen. Meine Mom lügt mich an, und du hast mich auch die ganze Zeit angelogen!«
Plötzlich stutze ich. »Moment mal, wenn ich dich von früher her kannte, warum hat meine Mom mir das nicht gesagt? Oder war das auch eine von ihren Lügen? Habt ihr beide euch abgesprochen?«
Luke sieht zu Boden. Seine Wangen brennen.
»Ich hab sie damals nie persönlich kennengelernt, und meinen Namen konnte sie auch
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