Forgotten
Breitseite verpasst.
Es ist Mittwochmorgen, gerade mal kurz nach sieben, und ich bin noch schrecklich müde. Alles ist Mist, also klammere ich mich an die kleinsten Lichtblicke.
Wie zum Beispiel Page Thomas.
In meinen Aufzeichnungen von gestern stand, dass sie in Sport die Mitglieder ihrer Mannschaft wählen durfte, und als ich als Einzige noch auf der Bank saß, hat sie zur Martinez gesagt, dass sie lieber mit einem Mann weniger spielen würde, als mich im Team zu haben.
Wie liebenswürdig.
Ich habe weitergeblättert und bin zufällig über eine Notiz von vor vier Monaten gestolpert. Das war im Oktober, kurz nachdem Luke an die Schule gekommen ist. Da stand:
Yogahose u. T-Shirt für Sport mitbringen (musste Freitag oberpeinliches Shirt von Page borgen).
Gestern hätte Page mir nicht mal ein Stück benutztes Klopapier geliehen, geschweige denn ein T-Shirt. Ich denke an morgen – nein, da wird sie mir unter Garantie auch nichts leihen wollen. Die Sache macht mich stutzig. Wieso ist sie neuerdings so gehässig? Was habe ich ihr getan?
Die nächste Stunde verbringe ich damit, in meinen Aufzeichnungen nach Antworten auf diese Fragen zu suchen. Und dabei stelle ich Folgendes fest:
Ich habe Page Thomas gerettet.
Ja, gut, nicht aus einem vierzigstöckigen Gebäude, das lichterloh in Flammen steht oder Ähnliches, aber hier steht es schwarz auf weiß: Es gab eine Zeit, in der ich mich an eine Zukunft erinnern konnte, in der Brad Page das Herz bricht. Schreddert und die Stückchen dann in den Dreck stampft, um genau zu sein.
Aber wenn ich mich jetzt an Brads und Pages Zukunft erinnere, dann sind sie so lange zusammen, wie ich mich überhaupt an sie erinnern kann. Auf dem nächsten Schulball werde ich hören, dass sie zusammen aufs College gehen wollen; danach verliere ich sie aus den Augen.
Soweit ich es mir aus meinen Aufzeichnungen zusammenreimen kann, haben sich die Dinge in dem Moment verändert, in dem ich Page gegenüber behauptet habe, dass Brad schwul sei. Dadurch war sie gezwungen, einen anderen Weg in seine Arme zu finden. Und das scheint den entscheidenden Unterschied gemacht zu haben.
Also gut, ich habe keine Freunde und mir wurde von einem umwerfend attraktiven Typen übel mitgespielt. Ich lebe mit einer Mutter zusammen, der ich nicht vertrauen kann, und irgendwann wird mir das Schlimmste passieren, was einem Menschen überhaupt passieren kann: Mein Kind wird sterben.
Mein Leben ist, milde ausgedrückt, ein totales Desaster.
Trotzdem gibt es an diesem trüben Mittwochmorgen ein winziges Stäubchen eines Krümels eines Splitters Sonnenschein: die Erkenntnis, dass ich Page Thomas vor einem gebrochenen Herzen bewahrt habe. Mit einer einzigen kleinen Entscheidung vor Monaten habe ich etwas zum Guten verändert.
Und wenn ich Page helfen kann, dann kann ich bestimmt auch mir selbst helfen.
*
Ich halte die geöffnete Metalltür meines Schließfachs so, dass ich im kleinen Spiegel auf der Innenseite Jamies Schließfach gegenüber beobachten kann, ohne dass es allzu sehr auffällt. Ich starre in den Spiegel und warte. Auf Außenstehende wirke ich so vielleicht ein bisschen selbstverliebt, aber wie so oft nimmt sowieso keiner Notiz von mir.
Weil ich sehen kann, was hinter mir passiert, weiß ich auch, dass der Junge, bei dem es sich, wie ich heute Morgen anhand der Fotos in meinem Zimmer festgestellt habe, um Luke handeln muss, gerade vorbeigekommen ist und ganz kurz gezögert hat, als überlege er, ob er stehen bleiben soll.
Ist er dann aber nicht.
Er beweist Geduld. Das ist gut.
Endlich taucht ein blonder Bob im Spiegel auf, und ich drehe mich rasch um, um sicherzugehen, dass es auch wirklich Jamie ist. Sie trägt ziemlich tief sitzende ausgebleichte Jeans und ein knallrosa Top, das von hinten noch einigermaßen zivil aussieht, aber vorne garantiert supertief ausgeschnitten ist. Das weiß ich, ohne es zu sehen.
Ich werfe meine Tür schwungvoll zu, damit das Schloss einrastet, und schiebe mich, den Blick fest auf Jamies Rücken geheftet, durch die Reihen der Schüler. Als ich bei ihr angekommen bin, muss ich mich mehrmals räuspern, bevor sie merkt, dass jemand neben ihr steht.
»Hi, J«, sage ich betont fröhlich.
»Hi«, brummt sie und taucht in ihr Schließfach ab.
»Wie geht’s dir?«
»Kümmert dich doch eh nicht«, gibt sie barsch zurück, ohne sich umzudrehen.
»Natürlich kümmert mich das, Jamie. Du bist meine beste Freundin!«
Sie sieht kurz zu mir, dann wieder in ihr
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