Forgotten
Drang, so laut zu schreien, wie es nur geht.
»Seit wann?«, zische ich und fasse mit einer Hand die Kante des Küchentresens, um mich abzustützen. Ich denke an die Geburtstagskarten von meinem Vater. Den miesen Verrat meiner Mutter. Und jetzt das.
»Seit wir elf waren«, sagt Luke, als wäre es das Selbstverständlichste überhaupt, und gießt damit noch ein bisschen Öl in das Feuer, das in meinen Adern lodert.
»Was soll das? Was für einen Mist redest du da?« Ich starre ihn fassungslos an. Ich komme mir schäbig vor und benutzt. Ich will, dass er verschwindet.
Nein. Halt. Erst soll er mir noch alles erklären.
»Okay«, meint er gedehnt. »Weißt du noch …« Er deutet mit der Hand in Richtung des Papierstapels auf dem Küchentisch. »… wie ich erwähnt hab, dass ich früher die Sommerferien öfter bei meiner Tante und meinem Onkel verbracht hab?«
Ich bin froh, dass ich heute noch mal meine Aufzeichnungen gepaukt habe, so dass ich auf seine Frage mit einem geknurrten »Ja« antworten kann.
»Und weißt du auch noch, dass du als Kind mal im CVJM -Sommerlager warst?«
»Nein.«
»Warst du aber. Und ich auch. Meine Tante und mein Onkel wohnen hier ganz in der Nähe. Oder wenigstens meine Tante. Sie lassen sich gerade scheiden. Das ist mit ein Grund, weshalb wir hierhergezogen sind. Meine Mutter wollte bei ihrer Schwester sein.«
Ich stoße laut die Luft aus. Noch immer halte ich den Küchentresen mit einer Hand umklammert. Die Fingernägel der anderen Hand sind kurz davor, mir die Handfläche aufzuritzen. Ich beiße die Kiefer so fest zusammen, dass ich mir vorstelle, wie meine Backenzähne zerbersten.
Luke deutet meine Körpersprache richtig. »Aber das ist alles unwichtig, London«, sagt er beschwichtigend. »Der Punkt ist, dass wir einmal den Sommer im selben Ferienlager verbracht haben. Wir waren befreundet. Du warst meine einzige Freundin. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass ich dein einziger Freund war.«
Luke macht eine kurze Pause, damit ich die Information verarbeiten kann. Ich starre ihn weiter an, eine stumme Aufforderung, gefälligst fortzufahren.
»Die anderen haben mich alle nicht mit dem Hintern angesehen, weil ich nicht von hier war. Und dann war da natürlich noch dieser Völkerball-Zwischenfall.«
Ich hebe ganz leicht die Brauen, immer noch ohne etwas zu sagen. Ich koche vor Wut, aber neugierig bin ich trotzdem.
Luke zuckt die Achseln, als wäre es keine große Sache gewesen. »Wir haben Völkerball gespielt, und einer von den Größeren hat mir absichtlich den Ball mit voller Wucht ins Gesicht geknallt, als der Betreuer gerade nicht hingesehen hat. Ich hab mir die Nase gebrochen, aber ich bin nicht besonders schmerzempfindlich, also hab ich gleich danach eine Prügelei mit dem Typen angefangen. Ich hab die ganze Zeit gegrinst, während er auf mich eingedroschen hat. Das sollte cool wirken, aber stattdessen haben mich alle für einen totalen Spinner gehalten. Alle außer du.«
Ich verdrehe die Augen. Netter Versuch. So leicht lasse ich mich bestimmt nicht einwickeln.
Er spricht weiter: »Du bist mir gleich am ersten Tag aufgefallen. Du hast ganz allein in einer Ecke gesessen und gelesen. Ich wollte dich ansprechen, hab mich aber nicht getraut. Übrigens wollte ich auch damals schon unbedingt deine Haare anfassen. Das war nicht gelogen vorhin.«
Ich erinnere mich an unsere Unterhaltung auf dem Teppich, und auf einmal wird mir wieder ganz warm ums Herz. Dann rufe ich mir schnell ins Gedächtnis, dass mein Freund, genau wie meine Mutter, ein elender Lügner ist.
Ich verschränke die Arme vor der Brust, und Luke räuspert sich nervös. Ich glaube, er weiß, dass er kurz vor dem Rausschmiss steht, also beeilt er sich mit dem Rest der Geschichte.
»Wie auch immer, jedenfalls bist du nach der Prügelei zu mir gekommen und hast mir deinen Pulli gegeben, um mir das Blut aus dem Gesicht zu wischen. Der war danach natürlich im Eimer. Deswegen war es gewissermaßen nur fair, dass ich dir an dem Tag vor der Turnhalle mein Sweatshirt gegeben hab«, fügt er hinzu und deutet auf den Kapuzenpullover, den ich trage. »Aber natürlich hast du den Bezug nicht kapiert.«
»Weil ich mich nicht erinnern konnte!«, fahre ich ihn an.
»Ich weiß, ich weiß«, sagt Luke hastig. »So war es doch auch nicht gemeint.« Er rutscht auf seinem Stuhl hin und her, und ich schiele zur Uhr. Ich hoffe inständig, dass meine Mutter nicht früher nach Hause kommt. Ich will unbedingt noch den Rest
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