Forgotten
der Weihnachtsmann.
Luke und ich tauschen erneut einen Blick, und gerade als ich mich zu fragen beginne, ob das Superhirn des Mannes doch nicht ganz das hält, was er versprochen hat, erhellt sich sein wettergegerbtes Gesicht.
»Ich hab’s! Gang dreizehn, Stelle zwohundertsiebenundvierzig. Oder achtundvierzig? Egal. Mir nach.« Er marschiert zielstrebig los. Wir folgen ihm, als er die sichere Orientierungsachse des Hauptwegs verlässt und uns immer tiefer hineinführt ins Dickicht der Toten.
Während Luke und ich ihm mit einem leicht mulmigen Gefühl hinterherlaufen und dabei dem Knirschen seiner Arbeitsstiefel auf dem Weg lauschen, frag ich mich, wie ein Mensch ticken muss, der freiwillig auf einem Friedhof arbeitet. Im Gehen brummelt der Weihnachtsmann irgendwas über Jo Lanes Beerdigung vor sich hin.
»Traurige kleine Schar. Bloß ein Mann und der Priester. Arme Frau.«
Obwohl ich nichts dafür kann, fühle ich mich schuldig.
Die Gräber sehen in der einbrechenden Dunkelheit wirklich unheimlich aus. Die herabhängenden Äste der Bäume machen es noch düsterer, und es kommt mir so vor, als wäre es mitten in der Nacht, dabei ist es gerade mal halb sieben.
Unvermittelt bleibt der Weihnachtsmann stehen. Luke kann mich gerade noch um die Hüfte packen, damit ich den Mann nicht umrenne.
»Hier ist es, zwohundertsiebenunddreißig«, verkündet der und zeigt auf die schlichte Grabplatte aus Granit unter seinen Füßen. Ich kann mir nicht helfen: Ich ärgere mich über ihn, weil er mit seinen dreckigen Stiefeln auf meiner Großmutter rumlatscht.
»Danke schön«, sage ich heiser und mache einen Schritt auf das Grab zu.
»Keine Ursache«, meint der Weihnachtsmann und macht kehrt, um zu seinem Schuppen zurückzugehen. »Lasst euch ruhig Zeit, ich schließe dann ab, wenn ihr fertig seid.«
Ich höre, wie seine Stiefel sich knirschend entfernen, und mein Blick heftete sich auf die Grabplatte, als würde ihr gleich ein Mund wachsen und sie mir alle Antworten geben, nach denen ich gesucht habe.
Ehefrau, Mutter, Großmutter, Freundin
Josephine London Lane
10. Juli 1936 – 10. Dezember 2009
Tränen stechen in meinen Augen, obwohl ich die Frau nie gekannt habe. Meine Namenspatronin. Luke legt mir den Arm um die Schultern und zieht mich eng an seine Brust.
»Alles klar?«
»Weiß nicht«, schniefe ich. Ich habe ein bisschen das Gefühl, als würde ich die Szene von außen miterleben wie ein Zuschauer.
Wir stehen schweigend vor dem Grab, und nach einer Zeit, die mir angemessen vorkommt, mache ich einen Schritt zurück.
»Komm, lass uns gehen.«
Schweigend führt Luke mich den Weg zurück, den wir gekommen sind, zwischen den Gräbern hindurch auf den Geräteschuppen zu. Es ist unmöglich, nicht an die Beerdigung zu denken: Ich sehe den anderen Gärtner vor mir – jünger und deutlich weniger zerzaust als der, dem wir heute begegnet sind. Er raucht seine Zigarette und wirft mir aus der Ferne ein aufmunterndes Lächeln zu. In meiner Erinnerung befindet er sich genau da, wo wir jetzt gerade hinschauen. In meiner Erinnerung stehe ich ein gutes Stück weiter …
Mein Herz macht einen Satz, und meine Füße bleiben wie von selbst stehen, als ich ihn entdecke: Die Skulptur eines Engels aus grünem Stein, der an jenem unbekannten Tag in der Zukunft mit der Schar der Trauernden weinen wird.
Luke will wissen, was ich habe. Statt ihm zu antworten, renne ich los.
»London!«, ruft er hinter mir her.
Ich höre, wie er mir nachgelaufen kommt. Seine Schritte hinter mir beruhigen mich ein bisschen. Falls ich gegen einen Baum rausche oder einem Gespenst begegne, ist er wenigstens sofort zur Stelle, um mich zu retten.
Mein Fixpunkt in dem Meer aus Gräbern ist der grüne Engel. Er ragt aus den Statuen der Nachbargräber hervor, als hielte er über sie Wache in der Nacht.
Mit jedem Schritt, den ich meinem Ziel näher komme, wird der Kloß in meinem Hals größer. Mir ist ganz schlecht vor Anspannung, ich habe Seitenstechen, weil ich zu schnell gerannt bin, und auf einmal steigt mir die Galle hoch. Ich weiß nicht, ob es an der Anstrengung liegt oder an der bangen Erwartung, was ich gleich finden werde, dass mir auf einmal so übel ist, aber ich muss ein paarmal schlucken, um es unten zu behalten.
Kurz darauf bin ich bei dem Engel angelangt, doch statt vor ihm stehen zu bleiben, wende ich mich dahin, wo meiner Erinnerung zufolge die Trauergemeinde steht.
Ich rechne damit, eine leere Grabstelle zu sehen – eine
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