Forgotten
bevor sie mich beiseite nahm und mir mit Zwiebelatem ins Gesicht flüsterte, Jo Lane habe tatsächlich fünf Jahre lang bei ihnen gelebt, bis sie fortgegangen sei.
»Wohin ist sie denn gegangen?«, habe ich begriffsstutzig gefragt.
»Es tut mir sehr leid, dass ich diejenige bin, dir es dir sagt, aber Jo ist letzten Winter von uns gegangen«, hat die junge Schwester erklärt. »Sie ist gestorben«, hat sie dann noch hinzugefügt, wahrscheinlich weil ich sie angesehen habe, als verstünde ich nur Bahnhof.
Das war der Moment, ab dem ich das Gefühl hatte, jemand hätte mich in eine Achterbahn gesetzt, mit der ich gar nicht fahren wollte. Luke bewies die Geistesgegenwart, der Pflegerin so viele Informationen wie möglich zu entlocken, dann lotste er mich zurück zum Wagen und rollte los. Keine Ahnung, wohin. Ich war immer noch völlig verstört. Er bedrängte mich nicht mit Fragen, sondern gab mir ganz einfach das Gefühl, dass er für mich da ist.
»Das tut mir so leid, London.«
»Ich kannte sie ja gar nicht«, antwortete ich, während in meinem Kopf die Gedanken wild durcheinanderpurzelten. Die Kilometer flogen vorbei. Wir waren bereits auf dem Weg nach Hause, und ich war nicht nur keinen Schritt weitergekommen, sondern darüber hinaus auch noch verwirrter als vorher.
Wie kann sie tot sein, wenn ich mich aus der Zukunft an sie erinnere? Irre ich mich, und die Frau auf der Beerdigung ist gar nicht meine Großmutter? Ist es jemand, der nur so aussieht wie sie? Ich muss mir das Foto noch mal anschauen. Vielleicht sollte ich es meiner Mutter zeigen? Vielleicht hat Grandma ja eine Schwester. Eine Zwillingsschwester.
Viele verschiedene Gedanken betreten die Bühne in meinem Kopf, um bei mir vorzusprechen, aber keiner bekommt die Rolle. Sie sind einfach nicht überzeugend genug.
*
»Danke, dass du mit mir hierhergekommen bist«, sage ich leise, als Luke und ich den Hauptweg des Friedhofs entlanggehen.
»Das tue ich doch gern«, antwortet er. Sein Blick schweift über das Meer aus Grabsteinen um uns herum. Unter unseren Schuhen knirschen Sand und Kies, und ich bemühe mich heldenhaft, sämtliche Vorstellungen an säuselnde Gespenster und Zombies, die sich aus ihren Gräbern wühlen, aus meinem Kopf zu verbannen.
Ich weiß nicht genau, wonach ich eigentlich suche, deswegen bleibt mein Blick automatisch an dem Einzigen hängen, was mir bekannt vorkommt: dem Geräteschuppen, der als Mausoleum getarnt ist.
Luke folgt meinem Blick und drückt meine Hand, die er fest in seiner hält.
»Da stand der Typ mit der Zigarette, oder?«, fragt er. »Ich meine, da wird er stehen.«
Seine einfache Frage gibt mir ein seltsames Gefühl der Ruhe. Geborgenheit sogar. Jetzt, da er mein Leben gelesen hat, kann Luke mich nicht nur besser verstehen, er kann sich auch für mich erinnern. In gewisser Weise ist er zu meinem Gedächtnis geworden – dem einzigen Gedächtnis, das ich vielleicht je haben werde.
»Ja.« Ich nicke, den Blick auf den Schuppen geheftet. Ich bin so vertieft in den Anblick, dass ich die winzige Bewegung im Innern wahrnehme, die mir sonst in der Abenddämmerung vielleicht gar nicht aufgefallen wäre.
»Komm, lass uns hingehen«, sage ich und ziehe Luke auf einen schmaleren Weg, der durch die Gräberreihen hindurch zum Schuppen führt. Ich will anklopfen, aber die Tür öffnet sich, noch bevor ich die Gelegenheit dazu habe.
»Guten Abend«, grüßt uns ein Mann mit einem gutmütigen, runden Gesicht und weißem Rauschebart. Er sieht ein bisschen aus wie der Weihnachtsmann. »Wie kann ich euch beiden denn helfen?«
»Hallo«, sage ich befangen und lege mir meine Worte zurecht. »Wir suchen ein Grab. Das von meiner Großmutter. Ich hab sie kaum gekannt, deswegen weiß ich nicht, wo sie liegt, aber ich dachte, vielleicht gibt es so was wie ein Verzeichnis.«
»Ein Verzeichnis, hm? Das einzige Verzeichnis, das es gibt, ist das in meinem Kopf«, brummt der Mann und tippt sich schmunzelnd an die Schläfe. »Mein Gedächtnis ist wie ein Fangeisen. Da kommt nichts wieder raus, was einmal drin ist. Wie hat denn deine Großmutter geheißen?«
Ich schiele kurz zu Luke, bevor ich mich wieder dem Weihnachtsmann zuwende.
»Jo Lane«, sage ich.
»Sie ist letzten Winter gestorben«, ergänzt Luke.
Der Weihnachtsmann kratzt sich den Bart und murmelt eine Weile »Lane … Lane … hm« vor sich hin. Ich sehe ihn scharf an. Irgendwie kommt er mir bekannt vor, aber vielleicht liegt es bloß daran, dass er aussieht wie
Weitere Kostenlose Bücher