Forgotten
leere Grabstelle dort, wo irgendwann mal ein totes Kind beerdigt werden wird.
Aber ich sehe etwas anderes.
Während ich allmählich wieder zu Atem komme, bewege ich mich zaghaft ein paar Schritte darauf zu. In meinem Kopf klickt und surrt und rattert es, aber irgendwie kann ich das Rätsel nicht lösen. Bis ich es schwarz auf weiß vor mir sehe.
Die Antwort.
Ich stehe jetzt genau an derselben Stelle wie in meiner Erinnerung, nur dass sich zu meinen Füßen nicht ein gerade ausgehobenes Loch befindet, sondern ein Grab mit einem schlichten polierten Stein und sorgfältig gepflegter Bepflanzung. Das Licht von einer Straßenlaterne draußen vor dem eisernen Zaun spiegelt sich in der Oberfläche des Steins, und ich kann die eingravierten Buchstaben so gut lesen, als wäre es heller Tag.
Ich muss erneut würgen, als Luke neben mir zum Stehen kommt. Wenigstens glaube ich, dass es Luke ist. Ich drehe mich nicht zu ihm um.
»Ich hatte dich kurz aus den Augen verloren.« Sein schwerer Atem ist ganz nah an meinem Ohr.
Ob ich noch atme, weiß ich gar nicht. Wie gelähmt starre ich auf den Stein hinab. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Luke die Inschrift liest, bevor sein Blick erst zum Geräteschuppen geht, dann zum steinernen Engel links von uns.
»Warte mal, ist das …« Seine Stimme verebbt mitten im Satz, und dann, endlich, wird es auch ihm klar. »Whoa«, ist alles, was er rausbringt, bevor er nach meiner Hand tastet und sie ganz fest hält.
Als der Gärtner kommt und uns eine Standpauke hält, weil wir auf seinem Friedhof eine wilde Verfolgungsjagd veranstaltet haben – irgendwas von wegen Störung der Totenruhe –, drehe ich mich um und sehe ihn mir noch mal ganz genau an. Tatsächlich. Er ist es.
Er ist älter, dicker und hat sich einen Bart stehen lassen, aber wenn er tröstend lächeln würde, statt uns mit missmutigem Gesicht anzustieren, würde er fast genauso aussehen wie früher. Erst jetzt sehe ich, was mir vorhin gar nicht aufgefallen ist: das Gesicht des jüngeren Gärtners in dem des alten.
Luke und ich verabschieden uns notgedrungen, aber nicht ohne vorher noch einmal lange die Grabinschrift zu betrachten, die mein Leben für immer aus den Fugen gebracht hat.
Unser geliebtes Kind
Jonas Dylan Lane
7. November 1998 – 8. Mai 2001
34
Auf dem Weg zum Ausgang trifft mich die Erkenntnis wie ein Faustschlag in den Magen, und zwar genauso heftig wie eben, als ich die Inschrift zum ersten Mal gelesen habe.
Die Beerdigung war in der Vergangenheit.
In der Vergangenheit .
Und ich kann mich daran erinnern.
Ich war so auf das Wer konzentriert, dass ich das Wann gar nicht beachtet habe.
In meinem Kopf dreht sich alles. Im Wagen schaltet Luke die Heizung auf höchste Stufe, und wir tauen langsam auf, während wir nach Hause fahren. Ich bin wie gelähmt.
Erst als wir vom Freeway abgefahren sind und meine Wohnsiedlung erreichen, sagt er etwas.
»Du musst endlich mit deiner Mutter reden.«
Ich sehe zu, wie die Häuser, die mir von morgen vertraut sind, an mir vorbeihuschen. Ob sich ein kleiner Teil von mir vielleicht auch aus der Vergangenheit an sie erinnert? Die Entdeckung auf dem Friedhof hat sämtliche Regeln meiner Existenz ins Wanken gebracht. Ich dachte immer, ich wüsste, was kommt, und sonst nichts. Simpel. Oder auch nicht.
Ich ertappe mich bei dem Wunsch, Jamie anzurufen. Wenn ich es nur könnte. Ich schüttle den Gedanken ab und sehe wieder aus dem Fenster.
Als Luke in unsere Einfahrt einbiegt, geht das Licht über der Veranda an. Ich werfe einen Blick auf die Uhr am Armaturenbrett und stelle fest, dass es schon fast acht ist. Das ist eigentlich kein Problem, bis auf die Tatsache, dass ich seit elf Uhr morgens unterwegs bin und in der ganzen Zeit nicht mal zu Hause angerufen habe.
»Sie macht sich bestimmt Sorgen«, spricht Luke meinen Gedanken aus.
»Geschieht ihr recht«, sage ich trotzig.
»Sei nicht so hart zu ihr.«
»Ich versuch’s.« Ich seufze matt, bevor ich aussteige und ins Haus gehe, um meine Mutter zur Rede zu stellen und endlich die Wahrheit über meine verlorenen Erinnerungen zu erfahren.
35
»Wer war Jonas?«, frage ich erneut. Irgendwie ahne ich die Antwort bereits, aber ich will es aus ihrem Mund hören.
In den Augen meiner Mutter spiegelt sich eine Mischung aus Schock und Trauer, und eigentlich möchte ich gar nicht hinsehen.
Aber ich tue es trotzdem.
»Wer war Jonas, Mom?«, frage ich zum dritten Mal, wobei ich inzwischen marginal gefasster
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