Forgotten
klinge.
»Woher weißt du –«, beginnt sie, verstummt dann aber gleich wieder und schaut auf ihre Hände, die in ihrem Schoß liegen. Offenbar ist ihr klargeworden, dass das Woher jetzt keine Rolle mehr spielt.
Irgendwann hebt sie den Blick. Sie wirkt geschrumpft.
»Jonas war dein Bruder«, sagt sie mit einer Stimme, die nicht mehr ist als ein Flüstern.
Ich kann nichts sagen, sie nicht mal bitten, dass sie weiterreden soll.
Sie macht es von selbst.
»Er ist … gestorben.«
»Ich weiß. Ich war auf dem Friedhof. Ich hab sein Grab gesehen.«
»Wieso …«, setzt sie an, bevor sie erneut abbricht. »Ist ja auch egal.«
»Ich erzähl dir, wie ich es rausgefunden hab, wenn du mir erzählst, was mit meinem Bruder passiert ist«, sage ich, während eine Träne meine Wange hinabkullert. »Und wieso du mich die ganze Zeit angelogen hast.«
»Ach, London, ich habe nicht gelogen. Ich habe dich vor einer sehr traurigen Wahrheit beschützt. Ich dachte …«
»Was? Dass es besser ist, wenn ich mein ganzes Leben lang ahnungslos bleibe?«
»Dass ich dir viel Kummer ersparen kann«, sagt meine Mutter leise und berührt in Erwartung der Tränen, die gleich kommen werden, ihre Wange. Ich sehe, dass ich eine alte Wunde wieder aufgerissen habe. Eine sehr tiefe, schmerzhafte Wunde, die lange gebraucht hat, um zu verheilen.
»Vor vielen Jahren, da … ist ihm etwas Furchtbares zugestoßen«, beginnt meine Mutter stockend. Hin und wieder huscht ihr Blick in meine Richtung, aber die meiste Zeit über betrachtet sie das Muster im Teppich, als könne sie daran ablesen, was sie als Nächstes sagen soll. »Er wurde entführt. Und getötet.«
Ich schnappe vor Schreck nach Luft. »Was? Von wem?«
»Wir wissen es nicht.«
Die Schultern meiner Mutter fangen an zu zucken, und einen Augenblick lang ist es, als wäre sie das Kind und ich die Erwachsene, als ich mich zu ihr aufs Sofa setze, sie in die Arme nehme und sie an meiner Schulter um ihren Sohn weint – einen Bruder, an den ich keinerlei Erinnerung habe.
Ich will mehr wissen, habe aber Angst zu fragen, weil ich sehe, wie schwer es ihr fällt, darüber zu sprechen.
Als sie sich wieder ein bisschen beruhigt hat, rückt sie von mir ab und legt mir die Hände auf die Schultern.
»Ich wollte dich nicht anlügen, London, das musst du mir glauben«, sagt sie und sieht direkt in mich hinein. »Du hattest dein Gedächtnis verloren, und das habe ich als eine Art Wink des Schicksals gesehen – als den einzigen Lichtblick in all der Dunkelheit. Du würdest nicht mit dem Schmerz des Verlustes leben müssen. Ich konnte dich davor beschützen. Das ist es, was ich all die Jahre über versucht habe. Mehr nicht.«
Wenn sie es so sagt, kann ich sie fast ein bisschen verstehen, auch wenn ich ihre Beweggründe nicht teile.
Ich mache mich von ihr los, setze mich auf einen der Fernsehsessel, winkle die Beine an und stelle die Füße auf das Polster. Dass ich immer noch meine Straßenschuhe anhabe, ist mir egal.
In meinen Aufzeichnungen steht an mehreren Stellen, dass meine Mom Geheimnisse vor mir hat – aber ich habe auch welche vor ihr. Es ist Zeit, reinen Tisch zu machen.
Und sie um Hilfe zu bitten.
»Mom?«
»Ja, Liebes?«
»Ich will alles über Jonas wissen. Ich weiß, dass es schwer ist für dich, aber du musst es mir erzählen. Es ist wirklich sehr wichtig.«
Ich lege die Arme um meine Beine und ziehe die Füße näher zu mir heran.
»Ich weiß, London. Ich weiß, dass du dein Leben verstehen willst.«
Ich hole tief Luft und schaue in die dunklen Augen meiner Mutter. Jetzt verstehe ich, warum immer ein Funken Traurigkeit darin zu sehen sein wird, selbst zu den fröhlichsten Anlässen. Ich kann mich nicht an Jonas erinnern. Ich erinnere mich an gar nichts. Aber sie erinnert sich an alles.
»Mom, es ist mehr als das. Ich glaube, es könnte mir helfen, wenn du mir die Geschichte erzählst.«
»Helfen, wobei?«, fragt sie verwirrt. »Was meinst du?«
Wahrscheinlich hätte ich es ihr viel früher sagen sollen.
»Dabei, mich wieder an meine Vergangenheit zu erinnern.«
Meine Mutter seufzt bloß und reibt sich die Augen. »London, du warst bei so vielen Ärzten, die auf jede nur erdenkliche Art versucht haben, deinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen. Wir waren sogar einmal bei einem Hypnosetherapeuten. Wieso glaubst du, dass es etwas verändern wird, wenn ich dir vom Tod deines Bruders erzähle?«
Und dann verrate ich endlich meiner Mom, was mich, meinen
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