Forgotten
glaube ich zumindest.
Die Erinnerung ist ziemlich verschwommen – ein paar schwarze Gestalten und hinter ihnen unzählige steinerne Grabmale. Ich habe einen Geruch in der Nase, ich glaube, es ist frisch gemähtes Gras. Keine Ahnung, wie spät es ist – halb neun oder Viertel nach drei, wer weiß? Der Himmel ist bedeckt, man kann es nicht sagen.
Ich verstehe nicht, was die Erinnerung zu bedeuten hat – woran genau ich mich da eigentlich erinnere –, aber trotzdem ist mein Herz schwer.
Ich fühle mich einsam.
Und ich habe Angst.
Ich überlege, ob ich das Licht anknipsen und die Einzelheiten dieser Erinnerung in meinen Notizen von heute festhalten soll – gleich unter meinen Überlegungen zu dem »Freak«, von dem Jamie in der Schule gesprochen hat. Aber dann bleibe ich doch im Bett.
Bestimmt hat der Vater mit seinem Kind, den ich heute Morgen auf dem Friedhof gesehen habe, die Erinnerung ausgelöst. Allerdings macht dieses Wissen die Tatsachen nicht angenehmer.
Ich erinnere mich vorwärts.
Ich erinnere mich vorwärts und vergesse rückwärts.
Meine Erinnerungen, die guten, die schlechten, die denkwürdigen, die belanglosen – sie alle sind noch gar nicht passiert.
Ob es mir also passt oder nicht (und es passt mir nicht ): Ich werde mich so lange daran erinnern, auf einem Friedhof zu stehen, auf frisch gemähtem Rasen, umringt von schwarz gekleideten Gestalten und steinernen Grabplatten, bis ich es wirklich tue. Ich werde mich an die Beerdigung erinnern, bis sie stattfindet – bis wirklich jemand stirbt.
Danach werde ich sie vergessen.
6
Ich bin früh dran zur Stillbeschäftigung.
Ich habe mich nach Sport extra schnell umgezogen, um Page aus dem Weg zu gehen. Ziemlich albern, weil ich ja genau weiß, wann sie mich wegen Brad fragen wird, und das wird ganz bestimmt nicht heute sein. Trotzdem habe ich mich beeilt. Außerdem habe ich den Umweg über mein Schließfach im Matheflügel ausgelassen, und voilà! Hier sitze ich nun in der Bibliothek.
Mehrere Minuten zu früh.
Offenbar sieht mir so ein Verhalten gar nicht ähnlich, denn die Bibliothekarin Ms Mason beäugt mich, als wäre ich etwas Ekliges, das man ihr auf den Teller gelegt hat und das sie gleich schlucken muss. Ich schenke ihr ein Lächeln, woraufhin sie den Blick abwendet.
Mehr und mehr Schüler trudeln in der Bibliothek ein. Ich hole das Mathebuch und einen Schreibblock aus meiner Tasche, dazu einen roten Druckbleistift. Glücklicherweise sitzt sonst niemand an meinem Tisch, ich kann mich also nach Herzenslust ausbreiten.
Ich fange mit den Hausaufgaben an, die ich meinen Notizen zufolge gestern nicht mehr gemacht habe. Die anderen unterhalten sich aufgeregt, um noch schnell ein bisschen Klatsch auszutauschen, bevor es klingelt.
»So sieht man sich wieder«, kommt plötzlich eine sanfte Jungenstimme aus dem Nichts.
Natürlich weiß ich genau, dass jemand anders gemeint ist, trotzdem schaue ich automatisch hoch.
Und mir bleibt die Luft weg.
Der Junge, der auf der anderen Seite des Tischs steht und so aussieht, als wolle er sich zu mir setzen, ist – anders kann man es nicht beschreiben – der nackte Wahnsinn.
»Hi«, sage ich, aber es ist mehr eine Frage als eine echte Begrüßung.
»Ich wusste gar nicht, dass du jetzt auch Stillbeschäftigung hast«, meint er, lässt sich die Tasche von der Schulter rutschen, zieht sich einen Stuhl zurecht und setzt sich hin. Sein Blick ruht die ganze Zeit auf mir.
Kenne ich ihn?
»Tja, sieht wohl so aus«, antworte ich. Es kommt ein bisschen patzig rüber, weil mir so viel im Kopf herumgeht: Bin ich hier überhaupt richtig? Was, wenn das hier gar nicht meine Stunde ist? Mein Blick huscht über die Gesichter meiner Klassenkameraden. Andy Bernstein – Check. Hannah Wright – Check.
Morgen ist Mittwoch, also ist heute Dienstag. Check.
Zweite Stunde?
Ja, gerade hatte ich Sport.
Der Junge sagt irgendwas.
»… und nach dem Fehlalarm hatte ich eine Orientierungsstunde, die hat ziemlich lange gedauert. Und gestern warst du nicht da. Wo warst du überhaupt?«
Ich trommle mit meinem Bleistift auf meinen Schreibblock ein. Diese Unterhaltung macht mich nervös. Ich muss mir meine Notizen von gestern ins Gedächtnis rufen, bevor ich antworten kann.
»Beim Arzt«, sage ich, gehe aber nicht weiter ins Detail.
»Schon gut«, sagt der Junge und schaut kurz die Tischplatte an. »Ich wollte nicht aufdringlich sein.«
Er schämt sich. Sieht süß aus.
»Bist du nicht«, sage ich, immer
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