Forgotten
noch trommelnd. »Ich bin in Sport über einen Ball gestolpert. Meine Mom dachte, ich hab mir vielleicht den Knöchel verstaucht.«
»Und? Hast du?«
»Nee, nur umgeknickt«, sage ich.
Ich trommle immer schneller.
Er sieht mich immer noch so an.
Direkt in mich hinein.
Jetzt mal im Ernst, kenne ich ihn?
»Da hast du ja Glück gehabt«, meint er. Es klingelt zum Stundenbeginn, und wir starren uns immer noch an. Er wirkt irgendwie belustigt, während ich vermutlich so aussehe, als würde ich gleich vor Anspannung platzen. So fühle ich mich wenigstens.
»Alles klar bei dir?«, fragt er und deutet mit dem Kinn auf meinen trommelnden Bleistift. Dass er mich darauf anspricht, bringt mich prompt aus dem Rhythmus. Der Bleistift rutscht mir aus der Hand, macht einen Salto in die Luft und landet auf dem Boden. Ich komme mir vor wie der letzte Trottel, als ich meinen Stuhl zurückschiebe und mich bücke, um ihn aufzuheben. Ich schnappe mir den Stift, und als ich unter dem Tisch den Kopf ein bisschen anhebe, fällt mir etwas Interessantes auf.
Schokobraune Converse Allstars.
Mein Herz macht einen Hüpfer, als ich mich an meine Notizen von heute Morgen erinnere.
Dieser Junge ist mein Freak.
Mein Freak ist sexy.
Irgendwie schaffe ich es, mich aufzurichten und den Stuhl wieder ranzuschieben, ohne umzukippen oder mich sonst wie zum Affen zu machen. Versuchsweise lächle ich ihn an. Er lächelt zurück. Ich lächle noch breiter.
»Du hast übrigens noch meinen Pulli«, meint er mit einem Funkeln in den Augen. »Aber ist schon okay. Du kannst ihn eine Weile behalten, solange du –«
»Pst!«, unterbricht uns Evil Eye Mason mit einem aufgebrachten Zischen von ihrem Pult aus.
»– versprichst, ihn –«, versucht der Freak es erneut, diesmal im Flüsterton, bevor die Mason mit der flachen Hand aufs Pult schlägt.
»Mr Henry!«, keift sie. Sexy Freak klappt den Mund zu und dreht sich widerstrebend zu ihr nach vorn. Sehr gut, jetzt kenne ich wenigstens einen Teil seines Namens. »Tut mir leid«, sagt er, an die Mason gewandt.
»Das will ich doch hoffen. Sie sind neu hier, also lasse ich es Ihnen diesmal noch durchgehen. Aber bitte denken Sie in Zukunft daran, dass in meinem Unterricht nicht gesprochen wird. Dies ist eine Stunde für stilles Arbeiten, kein Kaffeeklatsch.«
Ein paar von den Mädchen kichern leise, aber Ms Mason bringt sie mit einem einzigen Blick zum Schweigen. Mit ihrem spitzen Gesicht und den schwarzen Knopfaugen erinnert sie mich an einen Vogel. Einen sehr bösartigen Vogel.
»Tut mir leid«, sagt der Junge noch mal, bevor er einen Block und ein paar Kohlestifte aus der Tasche holt.
Ich freue mich über die Informationen, die ich so bekommen habe. Er heißt Henry mit Nachnamen. Er ist neu an der Schule. Und er zeichnet.
Bevor ich mich wieder über meine Hausaufgaben beuge, lächelt mir der Junge noch mal zu. Und während ich mich zusammenreißen muss, um nicht an Ort und Stelle dahinzuschmelzen, klappt er in aller Seelenruhe seinen Skizzenblock auf und blättert auf der Suche nach einer freien Seite darin herum. Dabei fallen mir zwei Dinge auf, nämlich erstens: Er kann richtig gut zeichnen, und zweitens: Seine Motivwahl ist ziemlich … speziell.
Ohren?
Als hätte er meine Gedanken gehört, streicht sich Henry, der sexy Freak, eine Strähne aus den Augen und sieht mich noch ein letztes Mal an. Er zuckt mit den Schultern und grinst schief, als wolle er sagen: »Na und? Ich mag Ohren.«
Ich erwidere sowohl das Schulterzucken als auch das Grinsen, um ihm zu verstehen zu geben: »Macht nichts, wir haben alle unsere dunklen Seiten.«
Aber er hat sich schon über seine Zeichnung gebeugt, und so bleibt mir nichts anderes übrig, als mich meinen Mathe-Hausaufgaben zu widmen. Auf halber Strecke durch Aufgabe drei macht es dann plötzlich klick: Der Pulli, von dem sexy Freak Henry gerade gesprochen hat, ist der Kapuzenpullover in meinem Schrank. Offenbar stammt er also gar nicht aus der Fundkiste, so wie meine Notizen es behauptet haben.
Ich habe mich angelogen. Nur: warum?
*
Mitternacht. Ich fahre meinen Laptop hoch. Tippen geht schneller, als von Hand zu schreiben, außerdem ist der Zettel auf meinem Nachttisch schon komplett voll mit sehnsuchtsvollen Gedanken über den Jungen, den ich heute kennengelernt habe. Das bisschen Platz, was am Rand noch frei war, habe ich mit den obligatorischen Herzchen und Blümchen ausgefüllt.
19. 10. (Di)
Gerade als ich einschlafen wollte, ist mir diese
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