Forgotten
Schulfarben?
Einfach.
Cheerleader.
Adidas-Tennisschuhe mit Sportsocken?
Männlicher Fußballspieler außerhalb der Saison. (Man beachte die haarigen Beine.)
Sind das dort Pantoffeln ? Tatsächlich.
Oh, das sind aber coole rote Stiefel. Ein bisschen westernmäßig, die würde ich mir gerne mal ausleihen. Wer könnte das sein? Vielleicht die Homecoming Queen vom nächsten Jahr, Lisa wie-heißt-sie-noch? Die ist doch immer ziemlich trendig unterwegs.
Ich halte es nicht länger aus und schaue hoch. Ich habe mich geirrt, das Mädchen mit den Stiefeln ist Hannah Wright. Ich kann mir ein Lächeln nicht verkneifen, denn Hannah hat eine glorreiche Zukunft vor sich. In ein paar Jahren wird sie der neue Country-Superstar sein.
Blick wieder auf den Boden. Als Nächstes sehe ich braune Converse Allstars, die genau auf mich zuhalten. Aber bevor es zum Zusammenstoß kommt oder es mir gelingt, ihren Träger zu identifizieren, zerrt Jamie mich zur Seite. Wir sind vor dem Spanischklassenraum angekommen.
»Spielst du schon wieder dieses alberne Schuh-Spiel?«, fragt sie und lässt meinen Arm los.
Ich zucke bloß mit den Schultern.
»Du solltest lieber mal aufpassen, wo du hinläufst. Dieser Freak von gestern hätte dich fast umgerannt«, sagt sie, als wir Ms Garcias Klassenraum betreten.
»Was für ein Freak?«, frage ich. In meinen Notizen stand nichts von einem Freak.
»Na, der, mit dem du dich am Freitag während des Feueralarms unterhalten hast. Jake. Nee, Jack. Lance? Keine Ahnung. Du weißt schon, der, der gerade erst hergezogen ist. Ich glaub, er wollte dich eben ansprechen, aber du warst ja zu sehr mit deinem Fußkino beschäftigt. Ist auch egal, mit Freaks solltest du dich sowieso nicht abgeben. Du bist selbst schon freakig genug.« Jamie dreht sich zu mir und grinst mich an, bevor das Läuten unserer Unterhaltung ein Ende setzt.
Als Ms Garcia sich einen Stift schnappt und auf dem Whiteboard die heutigen Unterrichtsinhalte skizziert, beuge ich mich zu ihr rüber und flüstere ihr leise zu: »Du siehst übrigens total hübsch aus heute, Jamie.«
»Danke, London«, flüstert sie mit einem kleinen Lächeln zurück, bevor sie sich Anthony Olsen zuwendet, der in stummer Verzückung ihre Beine anglotzt.
5
Es war kein Traum. Ich habe nämlich nicht geschlafen.
Beinahe, aber eben noch nicht ganz.
Es gibt diesen Dämmerzustand, kurz bevor man in den REM -Schlaf hinübergleitet, und genau da ist mir das Bild in den Kopf gerauscht wie ein außer Kontrolle geratener Güterzug. Jetzt sitze ich kerzengerade im Bett und blinzle wie verrückt, als könnte ich so meine Augen dazu bringen, sich schneller an die Dunkelheit zu gewöhnen. Ich höre mich keuchen und bin am ganzen Körper schweißnass, obwohl die Heizung in meinem Zimmer ganz niedrig eingestellt ist.
Wie das Bild der geöffneten Leiche in meinem Anatomiebuch, über das ich erst in ein paar Monaten stolpern werde und das mir jetzt schon im Kopf sitzt wie ein Splitter, geht die Erinnerung einfach nicht weg.
Am liebsten würde ich zu meiner Mom ins Schlafzimmer rennen und mich bei ihr unter der Decke verkriechen. Da mir das meinem Alter nicht ganz angemessen erscheint, versuche ich es mit autogenem Training. Ich atme mindestens fünfmal langsam und tief ein und aus. Ich schaue mir jeden dunklen Schemen im Zimmer an und sage mir: »Da ist nichts.« Dann erst bohre ich mich wieder in den noch warmen Kokon aus zwei übergroßen Kissen, die am Kopfende meines Bettes zu einer Art Tipi aufgestellt sind.
Ich fühle mich ein bisschen besser und versuche, mein Hirn zu überlisten, damit es an andere Sachen denkt. An den unfreundlichen Arzt von heute Morgen; an Jamie, wie sie mit Jason flirtet; an Jamie, wie sie mit Anthony flirtet; an weiße Sneaker, Pantoffeln, rote Stiefel, schwarze Lederschuhe, braune Converse …
Wham!
Meine Augen sind weit offen.
Ich schüttle den Kopf und zwinge mich, wieder an Schuhe zu denken. Kein Erfolg. Als Nächstes versuche ich es mit richtig unangenehmen Sachen wie Jamies Affäre mit Mr Rice und deren Konsequenzen. Nichts hilft.
Ich stoße frustriert den Atem aus und beschließe dann, meinen Gedanken einfach freien Lauf zu lassen. Wenn ich versuche, nicht dran zu denken, wird es offenbar nur noch schlimmer. Ich ziehe mir die Bettdecke bis unters Kinn hoch und blinzle ins stockdunkle Schlafzimmer hinein.
Und plötzlich stehe ich auf einem Friedhof.
Bei dem bloßen Gedanken daran wird mir ganz beklommen zumute.
Es ist eine Beerdigung,
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