Forgotten
Minuten lang kein Wort, bevor sie es endlich laut ausspricht: »Du glaubst, sie haben Jonas entführt und an neue Eltern verkauft.«
»Möglich wäre es«, antwortet Captain Moeller. »Ich will dir keine falschen Hoffnungen machen, aber falls es so wäre …«
Meine Mom packt meine Hand, bevor sie den Satz zu Ende spricht.
»… ist Jonas vielleicht noch am Leben.«
43
Ich bin zwar schon wach, mag aber meine Augen nicht öffnen. Eben habe ich einen Luftzug im Zimmer gespürt.
»London?«, höre ich meine Mutter flüstern. Ich reagiere nicht darauf. Sie flüstert erneut was, aber diesmal ist es nicht für mich bestimmt. Ihre Stimme klingt gedämpft, als hätte sie sich zu jemandem umgedreht, der im Flur steht.
»Sie hat verschlafen.«
»Sieht wohl so aus«, kommt die Antwort. Könnten die beiden ihr Gespräch vielleicht gütigerweise woanders führen? Es kann ja wohl noch nicht Zeit zum Aufstehen sein.
»London, Schatz, raus aus den Federn. Sonst kommst du zu spät zur Schule«, zwitschert meine Mom mit Singsangstimme.
Ich stöhne vernehmlich und klappe erst ein Auge auf, dann das andere.
Die Morgensonne knallt in mein Zimmer. Ich muss wohl gestern Abend vergessen haben, die Vorhänge zuzuziehen. Der Wecker zeigt sieben Uhr. Hmpf. Meine Mom steht im Türrahmen und hat einen komischen Ausdruck im Gesicht. Hinter ihr steht noch jemand, aber ich weiß nicht, wer, weil sie mir die Sicht versperrt.
»Was ist denn los?«, maule ich, ohne mich zu bewegen.
Statt mich mit einer Antwort zu beehren, sagt sie, wie ich finde, etwas bemüht: »Guten Morgen, London, willst du deine Aufzeichnungen lesen?«
Ich ziehe die Brauen zusammen. Mom strahlt wie eine Schönheitskönigin.
»Nein«, knurre ich. »Wer ist denn das da im Flur?«
Die Dielen knarren. Der geheimnisvolle Besucher bewegt sich. Ich rapple mich im Bett auf und versuche, an meiner Mom vorbeizuspähen. Ein paar Sekunden lang bleibt sie stehen, dann hebt sie in einer Geste der Kapitulation die Arme. »Na schön, dann erzähle ich dir schnell das Wichtigste«, sagt sie, kommt ins Zimmer und setzt sich auf meinen Schreibtischstuhl. Hinter ihr taucht der geheimnisvolle Besucher im Türrahmen auf. In der Hand hat er zwei Becher Kaffee und eine Papiertüte, von der ich doch sehr hoffe, dass sie einen Scone enthält. Ich bewundere sein umwerfendes Gesicht, seine strahlenden Augen und die perfekte Out-of-Bed-Frisur.
»Hey, Luke«, sage ich mit einem verführerischen Unterton, den meine Mom hoffentlich überhört hat.
Mom japst. Ups.
Luke schaut mich erstaunt, dann aufgeregt, dann ungläubig an.
»Du kannst dich an ihn erinnern ?«, fragt Mom.
»Natürlich«, sage ich und werfe ihr einen Blick zu, als wäre sie nicht ganz richtig im Kopf.
»Echt?«, sagt Luke.
Langsam verstehe ich gar nichts mehr. Was haben die denn alle?
»Aber … du hast dir heute doch noch gar nicht deine Aufzeichnungen angesehen«, stammelt Mom fassungslos.
Kann sie uns nicht einfach in Ruhe lassen, damit wir die letzten paar Minuten, bevor wir zur Schule müssen, sinnvoll nutzen können?
»Ist der Kaffee für mich?«, frage ich Luke und strecke fordernd die Hand aus. »Nein, hab ich noch nicht, wieso? Was soll das überhaupt? Wieso bist du so komisch?«
Als Antwort fängt sie bloß an zu kichern, und zwar so laut und albern, dass Luke und ich mitlachen müssen. Als wir uns wieder beruhigt haben, frage ich noch mal: »Was ist denn so komisch?«, woraufhin meine Mom erneut in Gelächter ausbricht.
Luke kommt zu mir, gibt mir den Kaffee und setzt sich neben mich aufs Bett. Er küsst mich auf die Wange und stellt leise fest: »Du erinnerst dich an mich.«
Ich denke an Luke morgen. An Luke im nächsten Jahr.
»Hab ich mich früher nicht an dich erinnert?«, frage ich verdutzt.
Immer noch lachend, entschuldigt sich meine Mom und lässt uns allein.
»Nee«, sagt Luke, und seine Augen blitzen auf. »Aber jetzt erinnerst du dich, das ist alles, worauf es ankommt.«
»Lass mich nur kurz meine Notizen checken«, sage ich und schnappe mir den Stapel Blätter von meinem Nachttisch. Nachdem ich sie durchgelesen habe, hat sich meine Laune deutlich verschlechtert.
»Luke, wir müssen reden.«
»Ist es wegen gestern?«, fragt er vorsichtig.
»Ja«, sage ich und bin froh, dass er es von sich aus anspricht. »Es ist was Ernstes.«
Luke versteift sich. »Du willst doch nicht Schluss machen, oder?«
»Nein«, sage ich, lache etwas gepresst und streiche ihm die Haare aus den Augen.
»Dann
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