Forlorner (Salkurning Teil 1) (German Edition)
mit ein paar Kolleginnen tanzen oder einen trinken ging. Nur zu ihrer
Sicherheit, erklärte sie dann. Kate, sechs, acht, zehn Jahre alt, stand am
Fenster und sah hinunter in den Hof, wo die Bewohner des Häuserblocks kamen und
gingen, ihre Wagen parkten, Einkäufe heraus- und ins Haus trugen, zum Kiosk
sausten, um schnell noch Zigaretten oder Bier zu holen. Sie sah die Teenager,
die sich abends da unten trafen, bevor sie zusammen loszogen: bunte, amöbenhaft
bewegte Gruppen, aus denen dann und wann Kreischen und Gelächter aufgellten,
bis der Hausmeister sie verjagte, stumpf und taub gegen die Kommentare, die ihm
daraufhin um die Ohren flogen.
Der Hausmeister hatte dort unten einen Garten, in den
man von den Fenstern ihrer Wohnung im dritten Stock hineinsehen konnte. In
diesem Garten hätte sie gern gespielt oder – als ihre Mutter ihr klarmachte,
dass man in so einem Garten nicht spielte – einfach nur die Blumen angesehen.
In diesem von blaugrünen Zypressen umgebenen Viereck
gab es jedes Jahr eine stille Explosion von Blüten in allen möglichen Farben:
Zuerst kamen die Krokusse und Schneeglöckchen, die Osterglocken und Tulpen
überall zwischen dem Dunkel der Zypressen, dann das unglaubliche, opalisierende
Blau einer Glyzinie, die einen ansonsten kümmerlichen Baum in der Mitte
umrankte und von seinen erstarrten Zweigen herabfloss. Weißblühende Geißblattranken
erfüllten die Frühsommernächte, egal wie grau und regnerisch sie sein mochten,
mit einem Duft, der in geheimnisvollen, unberechenbaren Schwüngen bis zum
dritten Stock hinaufdrängte. Rosen, Lilien, Lobelien und Rittersporn, die
übergroßen, schweren Köpfe der Pfingstrosen, Astern und Dahlien im Herbst und
immer noch die Rosen, die aprikosenfarbene Glut einer Rose bis weit in den
November hinein …
Kate liebte dieses Viereck, das wie ein unzugängliches
Geheimnis am Rand der Rasenfläche lag, auf der die Jungs Fußball spielten. Ein
paar Mal hatte sie sich doch hineingeschlichen, hatte sich zwischen den
Zypressen hindurchgequetscht und endlich einmal die Blumen von nahem
betrachtet, die sie sonst immer nur von oben sah. Es war gut. Es war sogar noch
besser, als sie gedacht hatte. Einmal hatte sie in einen Blütenkopf der
orangeroten Rosen gebissen. Der Duft war so voll, so täuschend, dass man
einfach saftiges Fruchtfleisch schmecken musste . Was für eine seltsame
Empfindung, stattdessen nur übereinanderliegende Schichten von samtiger, kühler
Glätte an Zunge und Gaumen zu spüren, während sich die Ahnung von Rosenduft auf
der Zunge fast sofort verlor. Sie stand da und schmeckte der Rose nach, bis der
kleine Hund hinter dem Fenster der Hausmeisterwohnung mit seinem Gekläffe den
Herrn des Gartens endlich herausscheuchte. Bis er auf der Terrasse stand, war
sie dann längst weg.
Zu der Zeit kannte sie sich mit der Ferne schon ein
bisschen besser aus. Längst war sie den Weg gegangen, der nicht zur Schule
führte, in den Stunden zwischen Schulschluss und Claires Feierabend. Die Ferne
hatte kein Ende, das war das Gute daran. Ihr ganzes Leben lang würde sie
geradeaus gehen können und doch nie am Ende ankommen! Allein der Gedanke war
schon aufregend.
Mit zehn hatte sie ihrer Mutter den Schlüssel geklaut
– schlauerweise, während er in ihrer Tasche bei Hasler, Soderbergh &
Camell lag, der Anwaltskanzlei, in der Claire als Sekretärin arbeitete, was
den Verdacht gar nicht erst auf sie fallen ließ – und hatte ihn nachmachen lassen.
(Der Schlüsselbund war einfach wieder aufgetaucht – war eben verschwunden und
wieder aufgetaucht, wie so vieles im Leben von Claire Unwin.) Und nun verließ
Kate abends die Wohnung, sobald sie sicher war, dass ihre Mutter nicht mehr
zurückgehetzt kam, weil sie einen Schal, die Zigaretten, ein Ticket oder was
sonst vergessen haben mochte. Sie sah sich die Stadt an – oder doch schon
einmal Hackney. Nach und nach erweiterte sie ihre Kreise um den Wohnblock in
der Graham Street immer mehr. Dabei übte sie die Sache mit dem Unsichtbarsein.
Es war eine Frage der Haltung. Sie wusste, wie man
gehen, wie man gucken musste, um Erwachsenen nicht als Kind an Orten
aufzufallen, an die man eigentlich nicht gehörte. Um nur als ein Wesen
wahrgenommen zu werden, das zielsicher auf dem Nachhauseweg war – oder zum
Kiosk – oder zum Supermarkt am Ende der Straße, wohin man noch schnell für
irgendwas fürs Abendessen geschickt worden war. Um so aussehen zu können, war
es zum Beispiel nützlich, wenn man das selbst
Weitere Kostenlose Bücher