Forlorner (Salkurning Teil 1) (German Edition)
glaubte. Man konnte sich dafür
vorstellen, ein Kind in einer Geschichte zu sein, das aus den verrücktesten
Gründen erst gegen zehn Uhr abends nach Hause kam – man hatte die Mutter im
Krankenhaus besucht oder den Opa im Altersheim, oder man besorgte noch rasch
ein Paket Windeln oder etwas aus der Apotheke, weil der kleine Bruder Fieber
hatte … Wichtig waren seriöse Gründe, sonst wirkte man nicht ernsthaft
genug. Wichtig war auch, dass man nie so aussah, als sei man unsicher oder
gehetzt oder – das Ende aller Unsichtbarkeit! – als hätte man Angst. Man musste
ruhig, gelassen und ernsthaft wirken, beschäftigt und zielsicher. Dann
beachtete einen keiner, nicht mal in der U-Bahn. Sie sahen einen vielleicht
kurz an, aber bevor sie denken konnten Was macht denn das Kind da mitten in
der Nacht? war ihr Blick schon wieder abgeglitten – das Kind hatte offenbar
einen guten Grund, genau dort zu sein, und war auf dem Weg zum nächsten
verantwortlichen Erwachsenen. Und tagsüber war es sowieso ein Spiel – mit dem
Hintergrund verschmelzen oder den Leuten das zeigen, was sie zu sehen
erwarteten.
Funktionierte hier in Salkurning ebenfalls.
Die Ferne – sie rauschte hier ebenso wie in London vor
zwanzig Jahren schon, auch ohne Autos. Und wie damals in ihrem Bett im
Kinderzimmer strich auch hier der Nachtwind über ihr Gesicht und kündete
gleichmütig von der Ferne, der Fremde. Sie stellte sich vor, dass es dasselbe
war, was schon unzählige andere vor ihr hinausgerufen hatte: auf See, in
Wanderzirkusse und Schausteller-Wohnwagen, auf Bohrinseln irgendwo im Meer oder
zu Forschungsstationen in der Antarktis. Auf und weg und immer weiter. Man
musste nur nichts festhalten, dann nahm einen die Fremde auf.
Obwohl sie immer, wie einen Gegenentwurf, auch die
Faszination der Kleinigkeiten gespürt hatte, die einen aufhalten konnten und
den Blick für die Ferne verstellten: Blüten … Schriftzeichen … Sommersprossen …
Aber was machte das. Seit sie Claire den Schlüssel
geklaut hatte, war sie nie im Zweifel darüber gewesen, was letztlich die
Oberhand behalten würde. Man konnte ruhig einmal stehenbleiben. Solange es
danach wieder weiterging –
Sie lächelte, als sie sich tiefer in die Netzgarne auf
dem Bootsboden einrollte.
17. Ohnmacht
1
Diesmal
rissen ihn wüste Schreie aus dem Schlaf. „James! James!“, brüllte jemand,
anscheinend direkt neben ihm. Er fuhr von seinem Strohlager auf (und schlug sich
natürlich wieder den Kopf an). „ James !“
Dann würgende Geräusche draußen vor dem Wagen. Husten,
noch mehr Würgen. Verflucht. Was jetzt wieder? Taumelnd kam er hoch und aus dem
Gilwissler heraus. Es dämmerte erst, er konnte kaum mehr als anderthalb Stunden
geschlafen haben seit dem Überfall. Draußen stank es immer noch furchtbar nach
toten Krebsen. Kein Wunder, dass man dabei das Kotzen kriegte.
Es war Halfast, der kreideweiß neben der Tür lehnte.
„Du musst mitkommen!“, keuchte er. „Es ist die Graico-Frau! Kriope! Im Graben!
Schnell!“
Er hetzte hinter ihm her über die Wiese – überall
Kawurassi, tote, halbtote, lebendige – vielleicht zwei-, dreihundert Meter
weiter, dann die Böschung hinunter. Da war etwas, im matten Grau dieses Morgens
nur ein dunkler Fleck am Grabenboden. Ja, Kriope. Ihre Kleidung war zerrissen,
ihr langes schwarzes Haar rings um den Kopf in den Schlamm getreten, ihr
Gesicht kaum noch zu erkennen, so brutal war darauf eingedroschen worden.
Als er ihr den Knebel aus dem Mund zerrte, hatte er
keine Hoffnung, dass sie noch am Leben sein könnte, aber sie gab einen
fiependen Laut von sich und versuchte sogar, sich wegzudrehen. Der Knebel – das
war ein Lederbeutel, genau wie der, in den sie gestern Nacht ihr Geld gestopft
hatte. Jetzt fielen Splitter daraus – Stücke von ihren abgebrochenen
Schneidezähnen.
„Kriope! Ich bin’s, James!“ Seine Stimme wackelte. Er
berührte ihr Gesicht so sanft er konnte. Oh Mann! Und sie hatte den kleinen
Sohn. Und Dionyssu, der in allem auf sie angewiesen war!
Ihr Kopf war von Schlamm und Blut verkrustet, und sie
sahen jetzt erst, dass ihr das Haar in ganzen Büscheln vom Schädel gerissen
worden war. Ihre Arme waren nach hinten verdreht – die mussten ihr die Hände
auf den Rücken gefesselt haben, und sie lag darauf.
„Kriope, kannst du uns hören? Was ist passiert? Wer
war das?“
Aber sie stöhnte nur. Das Auge, das nicht
zugeschwollen war, öffnete sich. Nackte Panik stand darin.
„Ihre Hände – wir
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