Forlorner (Salkurning Teil 1) (German Edition)
Erbarmungslosigkeit vermittelten. Die Stille, mit
der die Gestalt herankam, und der merkwürdige Geruch, der von ihr ausging,
ließen ihn unwillkürlich zurückweichen. Nicht weit von ihm blieb sie stehen.
Etwas an dieser Erscheinung erschreckte ihn, und für Sekunden war auf einmal
wieder der Treppenstufen-Reim in seinen Ohren.
Draußen begann Brogue nun zu singen. James’ erster
Eindruck war, dass Brogues Stimme hier viel mehr hermachte, als wenn man ihn
tagsüber auf seinem Wagen üben hörte. Mit seinem sanften Sprechgesang übernahm
er die Rolle des Erzählers. Er war gut zu verstehen und folgte mit der immer
nur leicht variierten Grundmelodie vermutlich einer bestimmten
Vortragstradition. Dazu begleitete er sich auf der Laute mit einer beinahe verspielten
Leichtigkeit, die man dem ewigen Miesmacher gar nicht zugetraut hätte.
„ Über die äußeren Ozeane erhob sich Kumatai, die
Herrin der Nacht
besah ihre Welt voll der flinken, stummen Kreaturen
und beschloss, sie zu krönen mit einem Geschöpf, das
ihre Macht besingen könnte.
So schuf sie die Brogor, aus Lehm und Felsgestein,
schönstimmige Sänger, doch grässlich von Angesicht –“
Hinter James kicherte jemand. „Und deshalb heißt
Brogue auch Brogue!“
„Still!“, flüsterte Jakobe. „Jujuna, du musst raus!“
Die dunkle Gestalt glitt an James vorbei auf die Bühne
hinaus – er hatte Kälte erwartet, aber es war im Gegenteil Wärme, eine
fremdartige, bebende Wärme, die ihn im Vorbeigehen wie ein Schleier streifte.
Jujuna also – er hätte sie nicht erkannt. Draußen bewegte sie sich langsam
hinten an der Kulisse entlang zur Bühnenmitte. Die Maske der Mondgöttin war
nahezu das Einzige, was man von ihr sehen konnte, nur einmal glänzte ihr
weiter, schwarzer Mantel wie Vogelgefieder auf, als das Kerzenlicht ihn traf.
„ Als das ihre Schwester sah, die helle Larenni, tat
sie es freudig ihr nach,
goss goldene Saat übers Land und machte es grün und
ließ ihre Kinder,
die Langorren, die Sonnengeborenen, den Auen
entsteigen.
Und sie wuchsen und gediehen in ihrem Licht,
sodass bald alle Lande tönten von ihrer Geschäftigkeit “,
sang Brogue, und jetzt gab es die ersten Rufe aus dem
Publikum. Auf der anderen Seite war nämlich Haminta auf die Leiter gestiegen
und schien nun, ganz Goldglanz und Strahlen, zwei Meter über dem Boden vor der
dunklen Kulisse zu schweben. Dass dort ein Seil gespannt war, war James bisher
nicht aufgefallen, es verschmolz völlig mit dem Hintergrund. In der Mitte
angekommen, hob sie die Arme, sodass die weiten Ärmel ihres Flitterkleides wie
goldene Fächer aufschlugen. Glitzernde Schnipsel – Flitterrestchen – regneten
aus ihnen herunter.
Für James, der an diesem ganzen Abend nichts lieber
wollte als seinen eigenen Gedanken entfliehen, kam das Theaterstück wie
gerufen. Die Fremdartigkeit dieser Vorstellung mit ihren einfachen, oft rohen
Mitteln lenkte ihn von dem ab, was im Hintergrund seines Bewusstseins rumorte.
Das Stück löste sich für ihn in eine Reihe von Einzeleindrücken auf, von deren
Farbigkeit und Kraft er sich mitziehen ließ, ohne viel von ihrem Sinn
mitzubekommen.
„ Doch zu eng schien die Welt für beide zusammen,
für die Brogor, die sich selbst Amburil nannten, die
Sänger,
und die Langorren, die Kinder der goldenen Sonne,
und sie stritten sich und führten erbitterte Kämpfe.
Und auch die Schwestern Kumatai und Larenni gerieten
darüber in Fehde .“
Jujuna kam mit großen Schritten nach vorne und rief
mit ihrer tiefen Stimme:
„ Bändige deine Brut, Schwester, bevor sie alles
überrennt und kahl frisst wie ein Heuschreckenschwarm!
Laut sind ihre hässlichen Stimmen, und sie sind schon
viel zu viele!
Dein Licht macht sie übermütig, und sie bedrängen
meine Kinder! “
Haminta ließ langsam die Arme sinken. Als sie sprach,
war es in einem singenden Ton voller Süße, der im perfekten Gegensatz zu
Jujunas rauchiger, harscher Stimme stand. James war schwer beeindruckt, zumal
sie sich immer noch auf dem Seil bewegte dabei.
„ Deine Sänger bewohnten Berge und Sümpfe und
waren’s zufrieden,
lebten stumpf wie das wiederkäuende Vieh in Höhlen und
Schlamm.
Erst meine Kinder lockten sie hervor auf die sonnigen
Wiesen und Felder.
Glotzäugig sahen sie dort dem geschäftigen Treiben zu
und wurden alsbald gierig auf Feld, Frucht und Land.
Jetzt töten sie meine Kinder aus dem Hinterhalt, mit
Tücke und Gift!
Du musst ihnen Einhalt
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