Formbar. Begabt
aufgefallen.
Dann wende ich mich doch dem Gedanken zu, den ich zuvor noch so weit wie möglich von mir weggeschoben habe. Die wahrscheinlichste – und unwahrscheinlichste Begründung zugleich – ist, dass tatsächlich ich selbst die Flasche manipuliert habe. Und wenn das wirklich der Fall gewesen sein sollte, dann kann ich es wieder tun.
Zum gefühlten hundertsten Mal gebe ich der Flasche einen Schubs, sodass sie sich schnell im Kreis dreht. Dann blende ich alles aus bis auf einen Gedanken.
Zeig auf mich! Na los! Zeig auf mich! Jetzt!
Ein Ruck – die Flasche liegt. Wieder deutet der Hals auf mich. Ich befeuchte meine vor Anspannung trockenen Lippen mit der Zunge und verharre reglos in meiner halb knienden Position. Kein Zweifel.
Die nächste halbe Stunde verbringe ich mit Feldversuchen, jedoch bleibt das Ergebnis gleich. Egal ob mit geschlossenen Augen, mit dem Rücken zur Flasche, liegend, stehend, darauf deutend oder hüpfend: Sobald ich meine Gedankenkraft fokussiere, zeigt der Hals auf die von mir gewünschte Position.
Zuerst nur auf mich, dann werde ich mutiger und lasse die Flasche auf den See und die umliegenden Bäume deuten. Schließlich bin ich so experimentierfreudig, dass ich mich in eine Brücke begebe und die Flasche auf meine Knöchel zeigen lasse. Auch das funktioniert. Wenn mich jemand beobachten würde, wäre es spätestens jetzt um meinen Ruf geschehen.
Allmählich bekomme ich Spaß an der Sache. So abartig ist es ja nun auch nicht, eine Flasche zu manipulieren. Eventuell hat es etwas mit Magnetresonanz zu tun. Keine Ahnung, was das genau ist, aber es klingt bedeutsam.
Zeit, den Schwierigkeitsgrad ein wenig zu steigern. Beim nächsten Schwung befehle ich der Flasche, auf den Himmel zu zeigen. Mal sehen, wie sie das bewerkstelligen will. Zwei Sekunden später sitze ich mit offenem Mund vor meinem Testobjekt, das nicht mehr wie zuvor auf dem Boden liegt, sondern senkrecht steht und mit dem Hals Richtung Himmel zeigt. Das ist jetzt nicht mehr witzig.
Plötzlich weicht alle Energie aus meinem Körper, und ich lasse mich kraftlos in den Sand fallen. Die ganze Sache und die damit einhergehenden Schlussfolgerungen sind im Moment einfach zu viel für mich. Ich kann damit nicht umgehen. Wie reagiert man, wenn man plötzlich Kräfte entwickelt oder schon immer hatte, von denen man selbst nicht im Geringsten etwas ahnte? Auf einmal bin ich zu etwas Besonderem geworden. Ich kann etwas, das andere Menschen nicht können, und ich bin nicht in der Lage, dieses Wissen für mich zu behalten. Einem Impuls folgend ergreife ich die Flasche und schleudere sie mit einem heftigen Wurf weit auf den See hinaus. Dann drehe ich mich ruckartig um und stapfe zurück zu meinen Freunden.
Die Wahl fällt mir nicht schwer. Jasmin ist diejenige unserer Gruppe, mit der ich am wenigsten Geheimnisse teile, bleiben also noch Laro und Viv. Laro ist zwar auf eine positive Art und Weise durchgeknallt, trotzdem bin ich nicht sicher, wie sie mein »Problem« aufnehmen wird. Späße kann ich jetzt keinesfalls brauchen. Dazu bin ich viel zu aufgewühlt. Bei Viv bin ich sicher, dass sie mir zuhören und zumindest eine Chance geben wird. Somit ist sie die Auserwählte.
Glücklicherweise bietet sich bald die passende Gelegenheit. Nachdem das Nudeln-im-Topf-über-dem-Feuer-erwärm-Projekt gescheitert war und wir stattdessen Schnitzel mit Pommes im Café »Zum goldenen Baum« als Mittagessen hatten, brechen Laro und Jasmin zu einer Wandertour im Wald auf. Sie geben sich keine große Mühe, uns zum Mitkommen zu überreden, was mich zu der Überzeugung bringt, dass sie sich wahrscheinlich mit Lucas und Marius, möglicherweise auch mit Jan, verabredet haben. Soll mir recht sein. Dieser Problematik widme ich mich, sobald ich wieder einen halbwegs klaren Kopf habe.
***
Mit einem Mal hatte ich den Beweis für die Wahrheit, die ich in meinem Innern bereits erahnt hatte.
Ich war außergewöhnlich. Überlegen. Besser.
7
Überzeugt
Unauffällig beobachte ich, in welche Richtung der Wandertrupp aufbricht, und lotse dann Viv unter dem Vorwand, ein Sonnenbad nehmen zu wollen, an das wohlbekannte Seeufer. Ihren höchst irritierten Blick, der mir »Hast du nicht eher einen Sonnenstich? Es ist April!« sagt, ignoriere ich vorsätzlich. Am Wasser angekommen machen wir es uns auf einer Decke bequem. Noch bevor wir richtig sitzen, schaut mich Viv gespannt an.
»Okay. Du hast meine volle Aufmerksamkeit.«
Scheinbar bin ich ein offenes Buch. Sie
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