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Formbar. Begabt

Formbar. Begabt

Titel: Formbar. Begabt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juna Benett
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bedrängt, und als Reaktion darauf habe ich ihn an die gegenüberliegende Wand geschmettert. Den Krankenwagen konnte ich zwar noch anrufen, aber dann bin ich untergetaucht. Nein, zu der Erklärung, welche diese Geschichte hinter sich herziehen würde, fühle ich mich momentan nicht in der Lage.
    »Ich muss mir einfach über ein paar Dinge klar werden. Lieb, dass du fragst.«
    Meine Mutter seufzt und berührt mit ihrer Hand leicht meine Wange. »Wenn du jemanden zum Zuhören oder Reden brauchst – du weißt, ich bin für dich da.«
    Erneut steigen mir die Tränen in die Augen. Schnell drehe ich mich zur Seite und ergreife mit einem Blick auf die Uhr meinen Rucksack. »Ich muss wirklich los, wir sehen uns heute Nachmittag.« Ohne eine Antwort abzuwarten, stürme ich aus dem Haus.
    In der Schule angekommen begebe ich mich auf direktem Weg zu den Mädchentoiletten, wo ich mich bis zum Unterrichtsbeginn einschließe. Erst als die Klingel ertönt, setze ich mich in Bewegung, sodass ich nur ganz knapp vor dem Lehrer das Klassenzimmer betrete und mich atemlos auf meinen Platz fallen lasse. Viv flüstere ich auf ihren fragenden Blick hin nur ein »Verschlafen!« zu, was sie vorerst zufrieden stellt. Ihre hochgezogenen Augenbrauen geben mir jedoch zu verstehen, dass sie spätestens in der Pause einen detaillierten Bericht erwartet.
    Wie wird sie reagieren? Mit Unbehagen denke ich an den Moment zurück, in welchem ihr klar wurde, dass ich andere Menschen mental beeinflussen kann. Wie wird sie sich verhalten, wenn sie begreift, dass von mir eine körperliche Gefahr ausgeht? Zumal ich nichts über Jans Zustand in Erfahrung gebracht habe, obwohl der Vorfall bereits zwei Tage her ist. Ich kann nicht einmal sicher sein, dass er noch lebt. Viv wird mich für ein Monster halte, und ganz unrecht hat sie damit nicht. Wie kann ich ihr etwas aufbürden, womit ich selbst nicht zurecht komme? Wäre es nicht egoistisch, jemanden ins Vertrauen zu ziehen, egal ob meine Mutter oder meine beste Freundin, nur damit ich mich besser fühle? Sollte ich sie nicht schützen?
    Während der Lehrer vorne an der Tafel einen endlosen Monolog hält und meine Mitschüler in Trance redet, wirke ich von Außen genauso gelangweilt und träge wie alle anderen, doch in meinem Innern tobt ein Sturm.
    Zum ersten Mal erkenne ich, dass das Zusammenleben in einer Gruppe nur dann möglich ist, wenn die Mitglieder einander ähneln, vergleichbare Ausgangssituationen aufweisen können. Meine großartige Kraft bedeutet nicht nur, dass ich Grenzen überschreiten kann, sondern dass mir plötzlich neue Schranken gesetzt sind. Unversehens bin ich zum Außenseiter geworden, der einen Teil seines wahren Ichs geheimhält. Unfreiwillig – aber macht das einen Unterschied?
    Viv schlägt sich großartig als beste Freundin. Aber wie verhielte es sich, wenn sie das Ausmaß meiner Fähigkeit in seiner ganzen Tragweite begriffe? Wenn sie wüsste, dass ich Jan durch einen einfachen Gedankenbefehl schwer verletzt habe? An seine Schulter, die ich mit einem einfachen Impuls richten konnte, und die unmittelbar folgenden Konsequenzen will ich gar nicht denken.
    Könnte sie sich noch in meiner Gesellschaft wohl fühlen?
    Würde sie nicht in ständiger Angst leben, mich zu verärgern und damit ihre Sicherheit zu gefährden? Ich kann und will unsere Freundschaft nicht aufs Spiel setzen. In der Pause werde ich ihr erzählen, dass Jan am Freitagnachmittag nicht aufgetaucht ist und ich so enttäuscht war, dass ich mich für das komplette Wochenende in meinem Zimmer verkrochen habe. Das erklärt zumindest mein derangiertes Äußeres.
    Der Gedanke an Freitag stößt in meinem Kopf eine Tür auf, und augenblicklich greifen Angst und Gewissensbisse wieder nach mir. Hätte ich nicht bei Jan bleiben und ihn ins Krankenhaus begleiten müssen? Nun sitze ich hier im Unterricht, als sei nichts gewesen, ohne die geringste Information über seinen Zustand.
    Habe ich ihn schwer verletzt?
    Ist er überhaupt wieder zu sich gekommen?
    Was habe ich ihm angetan?
    Im gleichen Maß, in dem meine Angst um Jan wächst, entfaltet sich auch meine Wut auf ihn. Ich habe völlig überreagiert. Das ist mir bewusst. Meine Tat war brutal und maßlos, doch geschah sie aus dem Affekt. Ein ungeplanter Reflex, der aus Notwehr heraus entstand.
    Ganz im Gegensatz zu Jan, der genau wusste, was er tat.
    Was wäre passiert, wenn ich mich nicht gewehrt hätte?
    Wie viel Zwang hätte er noch augeübt?
    Wie sehr seine Überlegenheit

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