Formbar. Begabt
noch sicher heimbringen.«
Den Rest der Fahrt beobachte ich schweigend, wie Jan, dessen Gesicht mittlerweile leichenblass ist, bei jedem entgegenkommenden Scheinwerfer vor Schmerz das Lenkrad umklammert. Durch die Bowle kann ich meine Gedanken nicht ordnen, alles fließt ineinander. Ich weiß lediglich, dass ich am nächsten Morgen ein Gespräch mit ihm führen muss.
Nachdem wir angekommen sind, entschuldigt er sich für seine schlechte Laune im Auto, bittet aber um Verständnis, dass er sich aufgrund seiner Schmerzen direkt hinlegen wolle. Da sich in meinem Kopf alles dreht, nehme ich diesen Vorschlag gerne an, sodass er kurze Zeit später gleichmäßig atmend neben mir einschläft.
Den Abend hatte ich mir anders vorgestellt.
Mit geöffneten Augen starre ich in die Dunkelheit von Jans Zimmer und registriere, dass sich der Schleier, der vom Alkohol auf meinem Gehirn lag, langsam auflöst. Ich kann wieder einigermaßen klar denken und die Schlüsse, die ich ziehe, gefallen mir nicht.
Jeder Former weiß, dass man die Realität nicht beugen kann, wenn sie in so vielen Zuschauern verankert ist.
Er weiß mehr über die Gabe, als er zugibt. Er weiß sogar mehr als ich. Der nächste Gedanke, der sich in meinem Kopf bildet, sorgt dafür, dass mir schlagartig übel wird.
Jan besitzt ebenfalls die Gabe. Deshalb reagierte er so gelassen auf mich. Deshalb fand er immer die richtigen Worte. Plötzlich sehe ich unsere Gespräche aus einer völlig neuen Perspektive.
Du darfst dich nicht an den Maßstäben normaler Menschen messen, denn keiner kann nachvollziehen, was sich in dir abspielt.
Außer ihm. Weil er eben auch nicht normal ist.
Warum hat er mir das verschwiegen? Was will er von mir? Hat er sich wirklich in mich verliebt? Ist es nicht ein zu großer Zufall, dass sich zwei Former, wie er es nennt, finden?
Wenn er wirklich ein Former ist: Hat er seine Gabe bei mir angewendet? Hat er mich beeinflusst und nach seinem Willen reagieren lassen? Ist er stärker als ich?
Plötzlich erinnere ich mich an den vergangenen Montag und die Dinge, mit denen mich Jan konfrontiert hat, nachdem er mir das Messer an die Kehle hielt.
Du hast mir deinen Willen aufgezwungen. Du bist viel stärker als ich.
Damals war mir nicht klar, wie merkwürdig diese Aussage klingt. Im Nachhinein betrachtet hat er wohl in diesem Moment das Ausmaß meiner Gabe erkannt, die scheinbar seine übertrifft.
Und wieder stelle ich mir die Fragen, um die sich in diesem Moment meine gesamte Existenz dreht.
Warum hat er es vor mir verborgen?
Was will er von mir?
***
Widerwillig musste ich feststellen, dass der Erfolg meiner Gabe auch vom Publikum abhängt.
Je mehr Menschen in der Nähe waren, die unbewusst oder bewusst zweifelten und damit die Realität verankerten, desto mehr Kraft musste ich aufwenden, um eine Veränderung letztendlich doch herbeizuführen.
27
Gebrochen
Nachdem ich in einen unruhigen Schlaf gefallen war, der mir nur wenig Erholung verschaffte, wache ich davon auf, dass Jan eine Schublade seines Schrankes schließt. Ich stütze mich auf meinen Ellbogen und beobachte ihn wortlos. Er trägt nur die Boxershorts, die er auch zum Schlafen anhatte, und sieht wie immer fantastisch aus. Heute Morgen entlockt mir das jedoch nicht die geringste Reaktion.
Als er bemerkt, dass ich wach bin, schenkt er mir ein strahlendes Lächeln. »Guten Morgen. Ich hoffe, du hast gut geschlafen. Entschuldige meinen Ausbruch von gestern Abend. Die Kopfschmerzen waren mörderisch. Im Nachhinein habe ich das Gefühl, nicht mehr Herr meiner Sinne gewesen zu sein. Ich hoffe, ich habe keinen allzu großen Blödsinn erzählt.«
Ich zucke mit den Schultern, nehme meine Kleider aus der Reisetasche und gehe ins Bad.
Als ich in Jeans und Top zurückkomme, ist Jan ebenfalls angezogen und sitzt auf dem Bett. »Möchtest du Frühstück? Meine Eltern sind nicht zu Hause, aber ich könnte uns Brötchen aufbacken.«
Ich baue mich in einem Meter Abstand vor ihm auf, ziehe die Schultern hoch und verschränke verkrampft meine Arme vor der Brust. »Bist du ein Former?«
Für einen winzigen Moment entgleisen Jans Gesichtszüge, jedoch hat er sie so schnell wieder unter Kontrolle, dass es auch nur Einbildung gewesen sein könnte.
»Nein!« Er wird blass und ringt nach Worten. »Ich meine... Former? Was soll das sein?«
»Du lügst.« Meine Stimme klingt kalt.
Jan steht auf und hebt hilflos die Hände. Er geht einen Schritt auf mich zu.
»Bleib mir vom Leib.«
Stumm lässt
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