Formbar. Begabt
er sich zurück aufs Bett sinken. Nach einer kurzen Pause klingt seine Stimme verständnisvoll. »Hannah. Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst. Kann es sein, dass du gestern ein wenig zu viel Bowle hattest?«
Im selben Moment spüre ich den leichten Wunsch, ihm zu glauben. Gut möglich, dass ich mir gestern unter dem Einfluss des Alkohols irgendwelche Sachen eingebildet habe. Womöglich hatte ich heute Nacht einen wirren Traum, der noch in meinem Kopf herumspukt. Bei dem Gedanken, dass ich wirklich glauben konnte, Jan besäße ebenfalls die Gabe und würde mich manipulieren, muss ich lächeln. Wie wahrscheinlich ist es, dass dies in der näheren Umgebung zweimal auftritt?
Wir haben wunderschöne Tage miteinander verbracht. Er hat mir so viel über sich erzählt. Ich habe sein Wesen kennengelernt. Er würde mich niemals anlügen. Eher sollte ich Gewissensbisse haben, dass ich ihm zutraue, mir derart Wichtiges zu verschweigen. Er ist in mich verliebt. Ich kann ihm vertrauen.
Aber ein Teil meines Verstandes revoltiert und besteht darauf, dass es sehr wohl einen Grund zur Besorgnis gibt. Ich hebe den Kopf und unsere Blicke treffen sich. Er fixiert mich durchdringend und voller Konzentration.
Augenblicklich durchzuckt mich die Erkenntnis. Er wendet die Gabe bei mir an. Für wie blöd hält er mich?
Wut durchflutet meine Wahrnehmung, und ich erwidere den Blickkontakt mit derartigem Zorn, dass Jan noch fahler wird als zuvor und die Hände in die Bettdecke gräbt. Er hat Angst vor mir. Aus gutem Grund.
»Jan. Du kannst damit aufhören. Es funktioniert nicht.«
»Ich weiß nicht, was du meinst.« Seine Stimme klingt angestrengt.
»Hör auf, die Gabe bei mir einzusetzen, sonst werde ich es bei dir ebenfalls tun.«
Warum sollte ich gegen ihn kämpfen? Er ist mein fester Freund. Ich muss ihm nur die Gelegenheit zu einer Erklärung geben. Diese Chance hat er verdient. Sicher ist alles nur ein Missverständnis, und ich rege mich wegen eines Hirngespinstes grundlos auf.
Der Wunsch, ihm zu glauben, verstärkt sich, und ich bin kurz davor, meine Barrieren fallen zu lassen und in seine Arme zu sinken. Doch mein Wille ist zu stark, um diesem Verlangen nachzugeben. Tief in meinem Innern weiß ich, woher der Wunsch kommt. Nach wie vor versucht Jan mich zu beeinflussen. Offensichtlich legt er es auf ein erneutes Kräftemessen an. Was will er damit bezwecken? Müsste er das nicht besser wissen?
Ich konzentriere mich ganz auf meine Empfindungen und versuche, den Punkt zu finden, an welchem die Gabe ansetzt. Fast unmittelbar danach bemerke ich eine Präsenz in meinem Bewusstsein, die mir fremd erscheint, die nicht zu mir gehört. Ich sende meine Gedanken aus und taste diese andersartige Anwesenheit ab. Gleichzeitig bereite ich mich vor, Jan einen Befehl zu erteilen, sollte es nötig sein. Je länger ich den unbekannten Gefühlsknoten untersuche, desto deutlicher erkenne ich, dass sich etwas in meinem Kopf befindet, was keinen Teil von mir darstellt. Und es hat Schwachstellen. Mit einem leichten Druck sende ich einen Impuls aus und löse die Verankerung in meinem Geist. Im selben Moment bricht Jan zusammen.
Sofort verschwindet auch der letzte Zweifel, den er mir eingegeben hat. Meine Erinnerung an den letzten Abend ist absolut korrekt. Das war der endgültige Beweis. Er ist ein Former, was auch immer das bedeutet, und er hat seine Gabe gegen mich eingesetzt.
In mir kocht die Wut weiter hoch und verschlingt alle anderen Emotionen. Genug geredet.
Stehe auf!
Mit einer geschmeidigen Bewegung springt er vom Bett.
Gehe zum Fenster!
Die Furcht steht ihm ins Gesicht geschrieben, doch er kommt meiner Aufforderung nach.
Öffne das Fenster!
Auf seinen Zügen zeigt sich tiefgehende Erschütterung.
Steige auf das Fensterbrett!
Zitternd vor Angst und unterdrücktem Zorn zieht sich Jan auf das Sims und klammert sich am Fensterrahmen fest.
Stelle dich hin, und lasse den Fensterrahmen los!
Jan steht nun mit dem Rücken zum Hof im Fenster. Nur ein kleiner Stoß und er stürzt in die Tiefe.
»Hannah. Bitte.«
Die perfekte Position, um ihn endlich zur Wahrheit zu animieren. Ich stelle mich direkt vor ihn und stecke meine Hände in die Hosentaschen. Jan wirft einen Blick über seine rechte Schulter und schwankt leicht.
»Warum hast du mir verschwiegen, dass du ebenfalls die Gabe besitzt?«
Jan bohrt seine Finger so fest in die Handfläche, dass die Knöchel weiß werden, und schüttelt schweigend den Kopf.
»Warum hast du dich
Weitere Kostenlose Bücher