Fortunas Odyssee (German Edition)
erschrockenem Blick. »Fred ist nicht weg und Tyanna auch nicht und… und niemand lässt dich allein.«
Er seufzte erbarmungswürdig und sein Magen knurrte hörbar. Der Mehlbrei mit Gemüse hatte seinen Hunger nicht gestillt, aber er wollte nicht darüber sprechen. Früher hatte er nur den Mund aufmachen müssen, und Tereza erfüllte alle seine Wünsche. Glücklicherweise konnte er in der Schule zu Mittag essen, und abends täuschte er seinen Magen mit Kleinigkeiten wie Tee und alten Keksen über den Hunger hinweg.
Die Plätzchen wurden in der Semmelbröselbüchse aufbewahrt – dort hielten sie sich, laut Tereza, angeblich länger. Außerdem gab es gelegentlich Erbsensuppe oder, wie heute Abend, einen Brei aus Maismehl. Er schloss die Augen und dachte an Papa, an sein Lächeln und an seinen Gutenachtkuss, dessen Spucke manchmal seine Stirn befeuchtet hatte. Während die Spucke hier das Leben symbolisierte, repräsentierte der Kuss die Liebe.
In diesem Moment bekam Tim Angst, eine ganz normale Angst, die sich einstellt, wenn wir fühlen, dass wir jemanden verlieren. Wieder kam ihm die Geschichte von Terezas Großmutter in den Sinn – was sie in den Tagen in der Wüste durchgemacht hatte, und wie der Kummer sie förmlich erdrückte. Er sah sich selbst in der Wüste, ohne dass ihm jemand zur Seite stand. In diesem Moment entdeckte Tim, dass die Lebensuhr niemals anhält und sich alles ständig ändert – zum Besseren oder zum Schlechteren.
Er weinte, eng an Tereza gekuschelt, und in dieser Nacht ging sie nicht zum Schlafen in ihr Zimmer, sondern hielt ihn in ihren Armen, wie eine Mutter ihrem Sohn.
»Tereza, du bist die beste Freundin, die man haben kann!«
»Du bist auch ein guter Freund, Tim.«
So verging dieses Jahr: Fred war in Behandlung, Mama arbeitete weit weg für einen Hungerlohn, von dem ihr noch alles abgezogen wurde, was sie in Genésios Laden einkaufte, und Tereza kümmerte sich um Tim und das Haus, in dem es fast komplett an Einrichtungsgegenständen mangelte.
Eines Tages beschloss sie, zum Bahnhof zu gehen, um eine Lösung für die Krise zu finden. Sie benutzte ihre Ersparnisse, die aus Papas weihnachtlichen Geldgeschenken bestanden, um einen Brief schreiben zu lassen.
Für diejenigen, die nicht schreiben konnten – und das waren damals viele - gab es am Bahnhof diesen Service. Als Analphabetin diktierte Tereza einer knochigen alten Frau mit langer Nase, die ihre Haare zu einem Dutt geknotet hatte, den Text, den sie schreiben sollte. Wenn Tereza nicht die richtigen Worte für bestimmte Sätze kamen, wartete die Frau, indem sie mit der einen Hand den Kugelschreiber hielt und mit den Fingern der anderen auf dem Tisch trommelte. Sie gab sich nicht die geringste Mühe, ihr zu helfen. Ich fand das nicht unbedingt schlecht, denn mit dieser Geste zeigte sie sich unparteiisch und ließ die Analphabeten frei ihre Texte zusammenstellen, selbst wenn der Kontext darunter litt.
Die alte Frau, die niemals lächelte, nahm die Geldscheine und verzog das Gesicht, denn sie waren zerknüllt, weil Tereza sie in einer winzigen Börse, die eigentlich für Münzen bestimmt war, aufbewahrt hatte.
In diesem Moment bekam ich Besuch vom Hexers.
Als die Frau den Umschlag verschloss, las er mit lauter Stimme die Adresse vor.
»Oh, das ist ein Onkel von ihr«, erklärte ich ihm.
»Er erinnert sich wahrscheinlich nicht an sie«, sagte er mit einem hämischen Lächeln.
Nach zwei Monaten schob der fröhliche Briefträger einen Umschlag unter unserer Tür hindurch, und Tereza war so aufgeregt, dass sie beim Öffnen einen Teil des Briefes zerriss. Sie ließ ihren Blick über jedes Wort gleiten, als könne sie lesen, rieb sich nervös die Hände und ging sofort zum Bahnhof.
Die alte Frau war gerade nicht anwesend, und Tereza ging auf und ab, wie jemand, der einen Plan ausheckt. Sie wartete nicht länger, sondern verließ den Bahnhof in unserer Begleitung. Auf den Plätzen, an denen sie vorbeiging, waren Dutzende von Männern zu sehen, die entweder auf zu Tischen umfunktionierten Kisten Karten spielten oder auf der Gitarre für ein kleines Publikum Musikstücke intonierten. Andere saßen einfach nur mit gekreuzten Beinen und den Händen auf den Knien herum und schauten in die Ferne. Sie waren alle von der Krise, die Madrigal erreicht hatte, betroffen. Aber trotz ihrer Arbeitslosigkeit taten sie so, als sei alles in Ordnung. Ich kommentierte die Tatsache, dass Mama Glück mit ihrer Arbeitsstelle gehabt habe, worauf der
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