Fortunas Odyssee (German Edition)
lassen. So ging man damals mit solchen Fällen um.
Das Ärzteehepaar hatte keine Kinder, und mit der Zeit wuchs ihre Zuneigung zu dem Jungen, der am Anfang ein gewöhnlicher Patient war, aber bald wie ein Familienmitglied behandelt wurde. Er sah dem Arzt sogar etwas ähnlich. Während einer gemeinsamen Fahrt in die Hauptstadt fragten verschiedene Leute, ob Fred sein Sohn sei. Der Arzt freute sich darüber und beschloss, Fred zu adoptieren.
Das war unser Glück, denn Mama hatte kein Geld, um eine psychiatrische Behandlung zu bezahlen.
Normalerweise wurde Mama morgens abgeholt und kam am späten Nachmittag zurück, wenn die Sonne hinter den Bergen unterging. Später, als sich Esperanzas Rheumabeschwerden verschlimmert hatten, schlief sie mindestens zweimal in der Woche in der Fazenda. Am Anfang war das schwierig für sie, denn sie hatte niemals ohne Papa oder uns Kinder auswärts geschlafen.
Das Bett hatte ein hohes Kopfkissen und eine Matratze aus Stroh. Das Zimmer war einfach, besaß aber eine Veranda mit atemberaubendem Ausblick. Man konnte die Berge in der Ferne sehen, deren Silhouette an die sinnlichen Kurven einer auf der Seite liegenden Frau erinnerten. Der Mond ging hinter dem höchsten Berg zwischen »Kopf« und »Schulter« auf und stieg immer höher.
Mama verschloss die Türe und drehte den Schlüssel zweimal herum – aus Angst, Genésio könne es wagen, einzudringen.
Das Haus war alt und der Holzfußboden knarrte, wenn sie sich auf ihm bewegte, was sie dazu veranlasste, auf Zehenspitzen zu schleichen, wenn sich schlafen legte. In der ersten Nacht blies sie die Lampe aus und schloss die Augen, um schnell einzuschlafen, was ihr nicht gelang. Sie erinnerte sich an ihre Hochzeit und an das Glücksgefühl, das sie empfunden hatte, in ein schönes Haus zu ziehen, von Kindern zu träumen und Tereza dort aufnehmen zu können. Sie erinnerte sich an die Unterhaltungen in der versammelten Familie und an das Gelächter, das Tereza mit ihren komischen Geschichten und der Art, wie sie sie erzählte, hervorgerufen hatte, besonders bei mir und bei Fred.
Dann warf eine traurige Erinnerung einen Schatten auf diese Gedanken und veranlasste sie, sich im Bett umzudrehen: Papas Krankheit, die ihn so früh verzehrt hatte.
Warum wohl? Wenn es überhaupt ein Warum gibt.
Es gibt keinen Grund. Es passiert einfach und basta. Für den Tod ist kein Motiv notwendig.
Die Menschen sterben wie die Tiere, die Pflanzen – so ist die Natur. Allen irdischen Lebewesen steht ein Ende bevor, dachte sie.
Ich lauschte mit ihr den nächtlichen Geräuschen der Fazenda – ein Orchester von Grillen, Fröschen, Füchsen, Nachtvögeln, Fledermäusen, dem Wind und den Katzen auf den Dächern – alles, was unter diesem hypnotisierenden Nachthimmel atmete. Sie dachte wieder an ihre Familie und quälende Gedanken überfielen sie. Auf der anderen Seite der Zimmertür saß eine alte Frau im kalten, dunklen Korridor und bewachte wie ein Adler die neue Hausangestellte. Ich erkannte Dona Ágata, die ein bepunktetes Nachthemd und eine Schlafmütze trug. Ihre Augen waren wegen der Dunkelheit weit aufgerissen. Nach einer Weile lehnte sie sich gegen das Kissen hinter ihrem Kopf und schlief ein.
Mama lernte bald, wie man seine Geschäfte in diesem Haus verrichtete. Tagsüber wurden seltsame, nicht besonders hygienische Kloschüsseln benutzt, in der Nacht dagegen Nachttöpfe, die unter jedem Bett standen. Dona Ágata war in dieser Hinsicht pedantisch – ihr Topf musste in aller Frühe geleert und anschließend mit aromatischen Kräutern gewaschen werden, bevor er wieder unter ihr Bett gestellt wurde. Mama musste diesen Dienst ausführen, und oft sie hielt dabei den Atem an, bis ihr Gesicht blau anlief. Der Urin der Chefin hatte einen Geruch, der in seiner Penetranz weit über das Herkömmliche hinausging.
Tereza legte ihre Matratze in das Kinderzimmer und blieb dort, bis Tim eingeschlafen war. Sie erzählte immer wieder dieselben Geschichten und manchmal schlief sie mittendrin ein. Aber Tim weckte sie, damit sie weitererzählte, obwohl er das Ende der Geschichten kannte.
Einmal unterbrach er sie. Ich saß auf der Fensterbank, ließ die Beine nach draußen hängen und sah zu, wie die Wolken allmählich den Mond verdeckten, während ich zum vierten Mal in dieser Woche dieselbe Geschichte hören musste.
»Papa und Fred sind nicht mehr hier und Mama geht auch weg. Lässt du mich auch allein?«
»Was spinnst du dir da zusammen, Junge?«, fragte sie mit
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