Fortunas Odyssee (German Edition)
sie hat weder Ausstrahlung noch Humor. Mein Großvater war auch ein gütiger Mensch, aber er war nie locker. Am Anfang meinte meine Großmutter, es läge daran, dass er früher General gewesen war, aber Jahre später entdeckte sie, dass es in seinem Elternhaus genauso zugegangen war, und dass er, mein Opa, eine strenge Erziehung genossen hatte.« Mama machte eine Pause biss sich auf die Lippen und fuhr fort: »Es heißt, dass er als Kind gezwungen wurde, mit den Eltern zum Gottesdienst zu gehen. Aber einmal hat er sich von Spielgefährten auf dem Weg dorthin ablenken lassen und kam erst in die Kirche, als der Gottesdienst bereits angefangen hatte. Sein Vater zog ihn am Ohrläppchen aus der Kirche und peitschte ihn aus, bis er blutete. Während er ihn verprügelte, sagte er: »Damit du nie mehr zu spät kommst! Nirgendwo! Merk dir: Fünf Minuten vor der Zeit ist des Soldaten Pünktlichkeit!«, brach der preußische Militär aus ihm hervor.
»Das einzig Gute, was mein Großvater von seinem Vater geerbt hatte«, sagte Mama, »war eine riesige Bibliothek. Meine Mutter erzählte, dass er Studenten in seinem Haus empfing, die sich für General Müllers berühmte Privatbibliothek interessierten.«
Mama lachte und wiegte den Kopf. Danach entschuldigte sie sich bei Esperanza, dass sie sie mit diesen Dingen belästigt habe. Die Magd winkte mit einer sympathischen Geste ab.
Ich gebe zu, dass ich diese Geschichte nicht kannte. Mama hat sie wahrscheinlich nur Papa und Tereza erzählt, aber nicht ihren Kindern. Ich wusste, dass mein Urgroßvater Deutscher war, und dazu ein strenger Mann, aber diese Details hatte sie uns verschwiegen. Mir wurde klar, wie viel Glück meine Großmutter hatte, als sie einen Lateinamerikaner heiratete. Mein Großvater war ein Kavalier, sowohl zu Hause als auch außerhalb. Meine Mutter erzählte mir, dass er fünf Jahre lang immer wieder erfolglos versuchte, bei meinem Urgroßvater, dem General, um die Hand meiner Großmutter zu bitten. Nach fünf Jahren gab der General, der bereits tatterig war, seine Zustimmung.
Esperanza brach das Schweigen.
»Na, dann wissen Sie ja gut, wie man mit Dona Ágata umgehen muss. Ich und meine Familie arbeiten mit großer Dankbarkeit für sie und ihren Sohn, denn hier haben wir Unterkunft und Ernährung. Meine Großeltern waren die ersten Sklaven in dieser Fazenda, und meine Mutter hat die Arbeit getan, die ich heute verrichte. Leider hat sie durch ihre Krankheit« – sie zeigte auf ihre eigenen Beine – »immer geschwollene Beine, muss ständig Wasser trinken und dadurch dauernd auf die Toilette, was sie daran hindert, weiter zu arbeiten. Außerdem sieht sie schlecht, denn diese Krankheit befällt den gesamten Organismus.«
»Diabetes«, sagte ich, als könne sie mich hören.
Ich schaute auf die Kleidung, auf die Zähne und die nackten Füße dieser Sklavin und dachte über die Lebensbedingungen dieser Leute nach, die für Ernährung und Unterkunft ihr Leben hingaben und ihre eigene Freiheit opferten.
Esperanza ging mit Mama auf die Veranda und zeigte ihr das Haus ihrer Eltern. Sie deutete mit dem Finger auf eine Ansammlung von Lehmhütten mit Strohdächern.
»Es ist das erste. Dort leben meine Alten«, sagte sie mit einem stolzen Lächeln.
Ich schaute auf die armseligen Hütten, die mehr an einen Haufen getrockneten Schlamm erinnerten.
»Mein Vater ist ein Hexer. Er kennt sich aus.«
Mama machte ein erstauntes Gesicht.
»Es ist wahr. Er hat sich nie in dem geirrt, was er in den Augen der anderen gesehen hat.«
Es war ein Tag voller Neuigkeiten. Ich lief durch die Kaffeeplantage und beobachtete die Kinder, die auf den von bunten Blumen umgebenen Wiesen spielten, während ihre Mütter die Kleider im Fluss wuschen, der in der Nähe des Hauses vorbeifloss. Ich ließ immer wieder meine Hände über die Wände der bescheidenen Häuser gleiten, die aus Lehm, Schilf und Holz bestanden. Die Strohdächer erinnerten an die Haare von Tereza, die, wenn sie befeuchtet und abgetrocknet worden waren, vom Kopf abstanden.
Ich fuhr auf einigen Karren mit und ärgerte mich über Rufino, der die Männer wie die Pferde behandelte, die vor seinen Wagen gespannt waren. Ein anderes Mal saß er am Wegesrand, rauchte eine Zigarette und klatschte den Mädchen, die mit der Wäsche auf dem Weg zum Fluss waren, im Vorbeigehen auf den Hintern. Sie mussten sich nicht nur diese Respektlosigkeit gefallen lassen, sondern auch noch darüber lachen, sonst machte er ein Zeichen mit dem
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