Fossil
Rosengarten vorbei, zwei oder drei schwere kanariengelbe Blüten blühen zwischen den Dornen, eine Reihe verwitterter Steine begrenzt, was wohl einmal der Weg zur Veranda gewesen ist. Dann etwas Heruntergefallenes, Zerbrochenes im Unkraut, und es dauert ein wenig, bis er es als Vogeltränke erkennt.
Die schwarzen Knochen der Hütte sehen aus wie ein Skelett, das irgendwann aufgegeben hat und in sich zusammengestürzt ist, die Deckenbalken sind die Holzkohle-Rippen eines besiegten Riesen oder Drachen, und dann der hohe Schornstein aus rußigen und rauchgeschwärzten Kalksteinblöcken und Mörtel, der über der Ruine aufragt wie ein Wächter. Farne und Wildblumen wachsen im Gerippe, ein Teppich neuen Lebens inmitten des Todes, Grün und helle Farbsprenkel auf einem Grab. Deacon muss sich nicht erst ausmalen, wie jener letzte Tag hier abgelaufen sein könnte, er hat genug davon gesehen, um den Rest zu ahnen.
Kurz hinter der Vogeltränke findet er ein großes Geweih, das noch immer an einem Teil des Hirschschädels hängt, die spitzen Enden sind verbrannt und haben sich wegen der Hitze gespalten. Vorn aus dem Schädel ragt eine große Nadel. Deacon schaut sich um und entdeckt überall Geweihe, die verteilt auf der Erde und zwischen dem verbrannten Holz herumliegen, einige sind so verkohlt, dass man sie kaum wiedererkennt, andere vollkommen unversehrt. Auch das gehörte zu seiner Vision, die Geweihe, und auch in Dancys eselsohriger Ausgabe von Beowulf kommen sie vor: Die Wände von König Hrothgars Halle, Hart Hall, Heorot, sind mit Geweihen geschmückt, und ob das nun Zufall ist oder absichtlich nachgeahmt wurde, der Gedanke ist doch unheimlich genug, um Deacon einen Schauer über den Rücken zu jagen.
Hier gibt es nichts Wichtiges mehr für ihn zu sehen, das weiß er plötzlich, genau wie Toomey sagte, alles ist längst weggeschafft oder beerdigt oder auf Nimmerwiedersehen weggeschlossen. Die Leichen von Dancys Großmutter und Mutter und die schwere gusseiserne Scheibe, die man an einen Baum genagelt ganz in der Nähe gefunden hat. In das Metall waren ein Pentagramm und dann eine siebenseitige Figur innerhalb dieses Sterns eingraviert gewesen. Allein beim Anblick dieses Dings wurde Toomey schon ganz komisch, sagte er. Irgendjemand hat die Scheibe dann schließlich einem Archäologen in Gainesville geschickt. Deacon hat Toomey gegenüber nichts von den Zeichnungen in Esther Matthews’ Notizbuch erwähnt. Der Mann ist offenbar schon fertig genug, wegen der Sachen, die er bereits weiß, der Dinge, die er gesehen hat. Daher hielt Deacon es nicht für angebracht, Toomey auch noch an den neuesten Horrorgeschichten teilhaben zu lassen.
Das Schlimmste an der ganzen Sache ist der dritte Körper, den man in der Asche entdeckte und den der Polizeireport als Schwarzbären beschrieb, als Schwarzbären abschrieb. Das Tier, das Dancys Großmutter getötet haben musste. Ein Treffer des Schrotgewehrs hatte ihm den halben Kopf weggerissen. Trotzdem… Toomey lehnte sich zu ihm und sagte: «Wenn das ein Bär war, Mr. Silvey, dann bin ich ein verdammter Chinese.» Und danach weigerte er sich schlicht, noch ein weiteres Wort über die Bestie zu verlieren.
Deacon beugt sich hinunter und streicht mit den Fingerspitzen über ein verkohltes Brett, das vielleicht einmal zu einer Stufe gehört hat, dem Fensterbrett oder der Tür, und er wartet schon fast auf den Geruch von Orangen, den Schmerz hinter den Augen, doch nichts geschieht. Keine Visionen vom Brand oder Dancy, die Benzin verschüttet und ein Streichholz anreißt, um zu verstecken, was hier wirklich geschehen ist. Nichts als die brummende Sinfonie der Insekten und Frösche, der aromatische Duft nach Kiefern und Farnen.
Und dann wieder Chance’ Stimme, die Erinnerung an den Traum von ihr ist so stark und klar, dass er sich über die Schulter schaut. Wir wissen beide, was in jener Nacht wirklich passiert ist. Das ändert gar nichts. Hinter ihm nichts als wachsame Bäume und der endende Tag. «Nein», sagt er, «wohl nicht.»
Deacon dreht sich zur Hütte um, zu ihrem Schornsteinwächter, und auf der anderen Seite der Lichtung, hinter einem Haufen Alteisen und ein paar verrottenden moosüberzogenen Baumstümpfen, erkennt er den Pfad, der hinunter zum Wampee Creek führt, wo Dancys Mutter ertrunken ist.
Oder sich ertränkt hat, denkt er und erinnert sich an die Geschichte über Pensacola, die Dancy ihm erzählt hat, über ihre Mutter, das Meer und die Fischer, die sie gerettet
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